Mehrheit knapp geschafft

Die Gemeinderatswahlen 2022 sind vorbei, die rot-grüne Mehrheit in der Stadt Zürich hat knapp Bestand: Alles gut also?

 

Im ‹Tages-Anzeiger› vom Dienstag nimmt der Co-Präsident der SP Schweiz, Cédric Wermuth, Stellung zu den Wahlen in der Stadt Zürich. Er sehe die Zürcher Wahlen «nicht so tragisch», sagt er: «Wir haben besser abgeschnitten als bei den eidgenössischen Wahlen 2019. Wir sind auf hohem Niveau gestartet, und jetzt auf das Niveau der Gemeindewahlen von 2014 korrigiert worden, haben gleichzeitig einen Sitz in der Regierung gewonnen. Ich freue mich natürlich auch nicht über die Verluste, aber es ist weit besser als befürchtet. Das ist eher eine Konsolidierung als eine Niederlage.» Wirklich? 

 

Im Interview mit der ‹Limmattaler Zeitung› vom Dienstag sagt der Co-Präsident der SP der Stadt Zürich, Oliver Heimgartner, unter anderem, die Mobilisierung habe auf linker Seite nicht gut funktioniert: «Wir haben es offenbar nicht geschafft, unserer Wählerschaft zu kommunizieren, wie wichtig diese Wahl ist. Dieses Problem müssen wir selbstkritisch anerkennen.» Ob auch das «zuweilen starke Powerplay der SP im Gemeinderat» die Stimmbevölkerung abgeschreckt haben könnte, glaubt er hingegen nicht: «Wenn man das Abstimmungsverhalten der Bevölkerung bei unseren Vorlagen aus dem Gemeinderat anschaut, deutet nichts darauf hin, dass die Stimmberechtigten unzufrieden sind mit unserer Politik. Die Bevölkerung hat unsere Gemeinderatsbeschlüsse für mehr bezahlbare Wohnungen oder einen klimaneutralen Verkehr in Volksabstimmungen immer deutlich unterstützt. Was ich mir aber vorstellen kann, ist, dass ein Teil der linken Wählerinnen und Wähler, der schon lange SP wählt, enttäuscht darüber war, dass die nötigen Fortschritte bisher nur zaghaft sichtbar wurden. Beim Wohnen etwa sieht man, dass die Mieten nach wie vor ansteigen und pro Jahr zu wenige neue bezahlbare Wohnungen entstehen. Bei der Umsetzung von Velowegen ist es leider ebenfalls nur sehr schleppend vorangegangen (…). Das sollte uns zu denken geben. In den nächsten Jahren muss es zügiger vorangehen.»

 

Weiter wie bisher?

Die SP hat sechs Sitze verloren, über vier Prozentpunkte. Verglichen mit den Wahlen 2018 ist ihr jede achte WählerIn verlustig gegangen. Sie hat sich jedoch mit Simone Brander den vierten Sitz im Stadtrat zurückerobert (siehe dazu Seite 9). Dieser Erfolg ist noch süsser, wenn man bedenkt, dass Simone Brander als Neue mit Filippo Leutenegger, Andreas Hauri und Michael Baumer gleich drei Bisherige überholte. Überwiegt also die «Konsolidierung» oder der Erfolg?

 

Fest steht: Dieses Mal machten nicht einfach die Grünen soviele Sitze mehr, wie die SP verlor. Die Grünen legten zwar zu, allerdings nur um zwei Sitze, und die AL verlor gar deren zwei. Oder anders gesagt: Einige SP-WählerInnen gaben dieses Mal Parteien ausserhalb des rot-grünen Spektrums den Vorzug. Damit ist die stolze rot-grüne Mehrheit der zuende gehenden Legislatur von 69 Sitzen auf 63 Sitze geschrumpft, auf das absolute Mehr. Immerhin. «Das Beste am Wahltag war, dass die linke Mehrheit weiterhin besteht. Es ist mir wurst, wie komfortabel sie ist, Mehrheit ist Mehrheit», findet denn auch Markus Kunz, der Fraktionspräsident der Grünen (siehe Seite 24).

 

Wieder im Rat vertreten ist die Mitte, sie holte sechs Sitze. Die EVP verlor einen Sitz, die SVP verlor deren drei, die FDP legte einen Sitz zu und die Grünliberalen gewannen drei Sitze dazu. Die Mitte, die vor vier Jahren noch unter ihrem alten Namen CVP an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war, übersprang diese nun im Kreis 9, was kaum ein Zufall ist: In diesem Wahlkreis ist Josef Widler zuhause, der auch für den Stadtrat antrat. Soweit die ‹Buchhaltung›.

 

Frauenanteil neu 40 Prozent

Eine Besonderheit dieser Wahlen hat eine erfreuliche, aber auch eine schwierige Seite: Erfreulich ist, dass bei diesen Wahlen viele (junge) Frauen (und ein paar Männer) neu den Sprung ins Parlament schafften. Der Frauenanteil stieg von rund einem Drittel auf 40 Prozent. Neu gewählt wurden von der SP Rahel Habegger, Hannah Locher, Fanny de Weck, Tiba Selina Ponnuthurai, Nadina Diday, Islam Alijaj, Anna Graff, Ursina Merkler, Gadaf (Dafi) Muharmi und Patrick Tscherrig. Bei den Grünen sind Anna-Béatrice Schmaltz, Yves Henz, Martin Busekros und Dominik Waser, der als Stadtratskandidat ein beachtliches Resultat machte, neu dabei, und für die AL schafften Michael Schmid und Tanja Maag Sturzenegger den Sprung in den Rat. Damit politisieren neu zwei «Michael Schmid» im Zürcher Gemeinderat, einerseits der Neue von der AL und andererseits ein Bisheriger, nämlich der Fraktionspräsident der FDP. Die Verwechslungsgefahr dürfte allerdings gering sein…

 

Bisherigen-Bonus Fehlanzeige?

Gleichzeitig wurden allerdings auch mehrere erfahrene Gemeinderätinnen und -räte nicht wiedergewählt: Bei der SP sind das Marco Geissbühler, Urs Helfenstein, Matthias Renggli, Joe A. Manser, Pascal Lamprecht und Matthias Egloff. Von den Grünen ist Roland Hurschler nicht mehr dabei, und bei der AL haben Natalie Eberle und Michael Graff die Wiederwahl nicht geschafft.

 

Joe Manser war 1989, also vor 33 Jahren, Mitglied des Gemeinderats geworden. Urs Helfenstein ist zwar ‹erst› seit 2014 Gemeinderat, doch er ist zurzeit amtierender zweiter Vizepräsident des Rats. Er wäre somit diesen Frühling erster Vizepräsident und nächstes Jahr Ratspräsident geworden. Sowohl er wie auch Pascal Lamprecht, der seit 2013 im Rat ist, waren dafür bekannt, über die Fraktionsgrenzen hinaus zu schauen und Kompromisse zu schmieden. Bis sich die Neugewählten im Rat zurechtfinden, dauert es erfahrungsgemäss eine gewisse Zeit. Weniger erfahrene Leute und gleichzeitig eine knappere rot-grüne Mehrheit – das tönt nach einer herausfordernderen Situation als auch schon.

 

Auffallend ist aber auch, dass der «Bisherigen-Bonus», der bei den Stadtratswahlen gespielt hat wie gewohnt, bei diesen Gemeinderatswahlen offensichtlich viel weniger ins Gewicht gefallen ist als auch schon: Urs Helfenstein beispielsweise stand auf dem dritten Listenplatz der Liste SP 4 + 5, die Sektion schaffte es, ihre fünf bisherigen Sitze zu verteidigen, und dennoch ging er leer aus. Pascal Lamprecht trat bei der SP 9 auf dem fünften Listenplatz an, seine Sektion schaffte den Sitzerhalt ebenfalls, doch auch er ist nicht wiedergewählt. Bei den Grünen hingegen gelang beispielsweise dem Spitzenduo aus dem Kreis 4 + 5, den Bisherigen Markus Knauss und Brigitte Fürer, von den Listenplätzen 1 und 2 aus problemlos die Wiederwahl.

 

Zusammengefasst: Die ‹alten› weissen Männer hatten einen schweren Stand, so wurden beispielsweise auch Markus Merki (GLP) und Ernst Danner (EVP) trotz Bisherigenbonus nicht wiedergewählt. Auf der anderen Seite ist es insbesondere den neu gewählten jungen Frauen zu wünschen, dass sie sich rasch einleben und bald frische Akzente setzen können.

 

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