Grosse Kelle oder zu knauserig?

Der Zürcher Gemeinderat befasste sich unter anderem mit dem Sozialarchiv und mit «sozialen Rezepten».

Wenn der Stadtrat zur Umsetzung einer Motion den Gemeinderat um eine Fristerstreckung bitten muss, macht er sich dort meist nicht beliebt. An der Sitzung des Zürcher Gemeinderats vom Mittwochabend ging es obendrein um ein Geschäft, das bereits mehrmals zu reden gab: Besagte Motion hatten Balz Bürgisser (Grüne) und Jean-Daniel Strub (SP, nicht mehr im Rat) eingereicht und damit die «Erstellung eines zentralen Gemeinschaftszentrums (GZ) als Begegnungsort in Witikon» gefordert. Hochbauvorsteher André Odermatt begründete den Antrag auf Fristerstreckung unter anderem mit der «schwierigen Standortsuche» in Witikon – die nötig wurde, weil das Haus, in dem sich das GZ heute befindet, einem Ersatzneubau weichen muss. Doch jetzt sei klar, dass eine zwei-Standorte-Strategie verfolgt werde: Ein GZ-Standort entstehe in Kombination mit dem Bau einer neuen Dreifachturnhalle im Sportzentrum Witikon, dieses Projekt laufe. Beim geplanten zweiten, zentralen Standort zeichne sich ebenfalls eine Lösung ab, doch Details könne er leider noch nicht verkünden, weil die Verhandlugen noch liefen. 

Balz Bürgisser zeigte sich erfreut über diese «frohe Botschaft» und spekulierte schon mal munter drauflos, ob sich der zentrale Standort möglicherweise in der neuen Überbauung der Swiss Re an der Witikonerstrasse befinde? Wie auch immer: «Was lange währt, wird endlich gut», schloss Balz Bürgisser. Mit dieser Einschätzung war er offensichtlich nicht allein: Mit 109:0 Stimmen hiess der Rat die Fristerstreckung gut.

Postulat knapp überwiesen

Ebenfalls einstimmig sprach sich der Rat dafür aus, dass dem Verein Schweizerisches Sozialarchiv für die Jahre 2024–2027 ein wiederkehrender Beitrag von jährlich 464 000 Franken bewilligt wird. Knapp wurde es jedoch beim Begleitpostulat zu dieser Vorlage des Stadtrats. Denn der bewilligte Betrag ist kleiner als vom Sozialarchiv beantragt: Es hatte sich die Weiterführung des bisherigen Beitrags unter Berücksichtigung der prognostizierten Teuerung gewünscht. «Das heisst, fürs Jahr 2024 wurden 508 119 Franken beantragt, fürs Jahr 2027 517 334 Franken», führte Balz Bürgisser aus, der das Postulat zusammen mit Liv Mahrer (SP) eingereicht hatte. Für die Beitragskürzung kann die Stadt allerdings nichts, denn der vor vielen Jahren beschlossene Verteilschlüssel sieht vor, dass die Stadt jeweils die Hälfte des Betrags bezahlt, den der Kanton dem Sozialarchiv überweist. Weil der Kanton nun den Betrag gekürzt hat, fällt auch jener der Stadt geringer aus. Balz Bürgisser ärgerte sich darüber, dass der Regierungsrat seine Kürzung mit dem «hohen Vermögen des Trägervereins von 1,41 Millionen Franken» begründet: Es sei unfair, das Sozialarchiv dafür zu bestrafen, dass es sorgfältig umgehe mit den finanziellen Ressourcen. Die Postulant:innen forderten deshalb, die Stadt solle in die Lücke springen und in den nächsten Jahren «konkrete Projekte des Sozialarchivs, deren Realisierung wegen der Beitragskürzungen gefährdet ist, finanziell unterstützen».

Den Ablehnungsantrag der SVP begründete Stefan Urech unter anderem damit, immer, wenn die Stadt nicht «mit der ganz grossen Kelle» anrichte, wolle die linke Ratsseite das sogleich ändern. Doch die Stadt könne sich das angesichts ihrer angespannten finanziellen Lage schlicht nicht leisten. Stadtrat Filippo Leutenegger führte aus, der Kanton habe nicht etwa einen Sparauftrag herausgegeben, sondern es gehe schlicht darum, zu hohe Reserven abzubauen. Es gebe in den kommenden vier Jahren kein Projekt, auf das das Sozialarchiv aus finanziellen Gründen verzichten müsse. Mit knappstmöglichem Resultat – 55 gegen 54 Stimmen (von SVP, FDP, GLP und Mitte-/EVP) – überwies der Rat das Postulat.

«Soziale Rezepte»

Mit einer Motion forderten David Garcia Nuñez und Ezgi Akyol (beide AL, letztere nicht mehr im Rat) ein Pilotprojekt für das Aussstellen von «sozialen Rezepten» in den städtischen Gesundheitsinstitutionen. Moritz Bögli (AL) erklärte, diese Idee stamme aus dem Ausland – das sogenannte Social Prescribing wurde in den 1990er-Jahren in Grossbritannien entwickelt. Wenn eine medizinische Behandlung längerfristig nicht wirke, müssten auch soziale Angebote verschrieben werden, fasste Bögli zusammen. Eine solche integrative Gesundheitsförderung wünsche sich seine Fraktion auch für Zürich.

Der Stadtrat schlug in seiner Motionsantwort ein vierjähriges Pilotprojekt vor, anhand dessen er herausfinden möchte, ob «soziale Rezepte» längerfristig ein sinnvolles Angebot für die Stadt Zürich sind. Das Konzept sieht gemäss Vorlage des Stadtrats unter anderem vor, dass das medizinische Fachpersonal in drei bis vier Ambulatorien des Stadtspitals Zürich für die Dauer des Pilotprojekts die Möglichkeit haben soll, «Patientinnen und Patienten mit nicht-medizinischen, aber anderweitigen gesundheitsrelevanten Bedürfnissen an eine Koordinationsstelle mit sogenannten Link Workern zu verweisen respektive ihnen eine entsprechende Sozialberatung durch sie zu verschreiben». Angesichts der veranschlagten Kosten von rund einer Million Franken – ein Betrag, über den der Stadtrat in eigener Kompetenz verfügen kann – hatte der Gemeinderat lediglich über die Abschreibung der Motion zu befinden. Aus Sicht der AL hat der Stadtrat denn auch gar keine Motionsantwort geliefert, sondern den Vorstoss bloss wie ein Postulat behandelt.

In der Folge entstand ein Durcheinander – es ging darum, dass die einen den Bericht des Stadtrats zustimmend, andere ablehnend und wieder andere gar nicht zur Kenntnis nehmen wollten, während eine vierte Gruppe befand, es gebe ja gar keinen Bericht zur Kenntnis zu nehmen, sondern eben lediglich die Motion als erledigt abzuschreiben. Was Ansichtssache ist: Der Stadtrat beantragte in seiner Vorlage lediglich die Abschreibung der Motion, doch aus der Kommission wurden nun mal die genannten Änderungsanträge bezüglich «Bericht betreffend Pilotprojekt für das Ausstellen von ‹sozialen Rezepten› in den städtischen Gesundheitsinstitutionen» gestelllt. 

Schliesslich sprachen sich in der ersten Abstimmung SP und Grüne (mit 53 Stimmen) für eine zustimmende Kenntnisnahme des Berichts aus, AL, SVP und FDP (51 Stimmen) für die ablehnende Kenntnisnahme, und die GLP lehnte beide Arten der Kenntnisnahme ab. In der zweiten Abstimmung sprachen sich SP, Grüne und Mitte-/EVP für zustimmende (61), AL, SVP und FDP für ablehnende (41) Kenntnisnahme aus, und die GLP enthielt sich der Stimme.

Mit einem Änderungsantrag verlangten SP, Grüne und AL sodann noch, dass die Motion nicht abgeschrieben werden und dem Stadtrat eine Nachfrist von sechs Monaten eingeräumt werden solle, «zur Unterbreitung der mit der Motion verlangten Vorlage». Hier setzten sich die drei Fraktionen mit 62 gegen 56 Stimmen durch, ebenso in der Schlussabstimmung bezüglich Kenntnisnahme des Berichts und mit 62 gegen 56 Stimmen für Nichtabschreibung und Nachfrist.

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.