Care-Migrantinnen stärken

Immer mehr ältere Menschen suchen nach bezahlbarer Betreuung und Pflege, um möglichst lange selbstbestimmt zuhause wohnen zu können. Care-MigrantInnen decken in zunehmendem Masse diesen Bedarf: in der Regel Frauen, oft aus osteuropäischen Ländern. Das «FairCare-Tandem-Modell» setzt hier an und sucht nach Lösungen für eine faire Organisation der Sorgearbeit im Privathaushalt.

 

Karin Van Holten, Corina Salis Gross und Andy Biedermann*

Sie möchten zuhause leben im Alter? Da sind sie nicht allein. Die meisten Menschen wollen das und zwar auch dann, wenn sie Betreuung oder Pflege brauchen. 2019 lebte knapp ein Drittel der über 80-jährigen Menschen in der Schweiz zuhause. «Das ambulante Setting wird immer wichtiger», sagt Thomas Heiniger, Präsident von Spitex Schweiz im Jahresbericht und führt dazu weiter aus: «Die Spitex ist da. Überall. Sie pflegt, unterstützt und sie erleichtert vielen Menschen das Wohnen in den eigenen vier Wänden.» Doch in vielen Situationen reicht die Spitex nicht aus. Mehr als die Hälfte der Spitex-KundInnen braucht zusätzlich alltagsnahe Unterstützung und Betreuung. Angehörige sind ein tragender Pfeiler in der Schweizer Langzeitversorgung. Doch welche Optionen bestehen, wenn betreuende Angehörige nicht vorhanden sind oder angesichts steigender Betreuung  an ihre Grenzen stossen? 

Genau hier klafft im Schweizer Gesundheitssystem eine Lücke – sowohl mit Blick auf die vorhandenen Fachkräfte, die Angebote wie auch hinsichtlich der Finanzierung derselben. Immer mehr ältere Menschen oder deren Angehörige suchen daher nach bezahlbarer Unterstützung in Betreuung und Pflege, um möglichst lange selbstbestimmt zuhause wohnen zu können. Sogenannte Care-MigrantInnen decken in zunehmendem Masse diesen Bedarf. In der Regel sind es Frauen, oft aus osteuropäischen Ländern. Sie pendeln meist zwischen ihrem Herkunftsort und ihrem Arbeitsort in der Schweiz, wo sie für einige Wochen oder Monate die Betreuung übernehmen. Viele von ihnen arbeiten unter prekären, ungeschützten Bedingungen. Soziale Isolation, hohe Arbeitsbelastung bei gleichzeitig niedrigen Löhnen, ungenügende soziale Absicherung und Abhängigkeit von Personalverleih- oder Vermittlungsunternehmen stellen häufige Probleme dar. Der Arbeitnehmerschutz ist gering und die Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen, sind deutlich eingeschränkt.

 

Spannungsfelder der Live-in-Betreuung

Das gängige Betreuungsmodell mit Care-MigrantInnen ist die sogenannte 24-Stunden-Betreuung. Der Begriff suggeriert eine durchgängige Betreuung über 24 Stunden durch eine Person, was weder rechtlich noch ethisch vertretbar ist. Hier wird deshalb die Bezeichnung Live-in-Betreuung favorisiert. Mit diesem Begriff wird der spezielle Umstand betont, dass für die Zeit des Arbeitseinsatzes der Arbeits- und der Lebensort der Care-Migrantin identisch sind, nämlich das Zuhause der betreuungsbedürftigen Person. Damit rückt der Begriff eine weitere Problematik des Modells in den Mittelpunkt: Die schwierige Abgrenzung von Arbeit und Freizeit, die bedingt durch die räumliche Nähe für die Live-in Betreuungsperson besonders herausfordernd ist, denn: «Man kann nicht nein sagen, wenn man vor Ort ist.» (Zitat einer Live-in-Betreuerin) Umgekehrt macht die umfassende Präsenz aus Sicht der KundInnen die besondere Attraktivität dieses Modells aus. Frei haben Live-in-Betreuungspersonen de facto nur sehr wenig. Und auch an Frei-Tagen wird oft morgens und abends gearbeitet: «Habe heute frei, bin um 6 aufgestanden habe alles vorbereitet, Frühstück, Jogurt auf dem Tisch, Essen vorgekocht, Bettwäsche gewechselt – ich habe nicht 24 Stunden frei, nur 10, 12 oder 8.» (Zitat einer Live-in-Betreuerin) 

Weiter lässt sich oft beobachten, dass das Arbeitsverhältnis von den KundInnen in Richtung einer erweiterten Familienzugehörigkeit umgedeutet wird. Die Betreuungsperson wird z.B. als Ersatz-Tochter wahrgenommen. Dadurch rückt die Verantwortung für die Arbeitnehmende in den Hintergrund. Diese Tendenz zur ‹Familialisierung› wird von einzelnen Vermittlungsagenturen gefördert, z.B. wenn Live-in-Betreuerinnen als ‹Familienengel› bezeichnet werden. 

Das ist nicht nur mit Blick auf das Arbeitsverhältnis problematisch, sondern auch hinsichtlich der Versorgungsqualität. Die gerade durch die räumliche Nähe zur betreuten Person erlangten spezifischen Kenntnisse der Live-in-Betreuungsperson könnten ein wichtiges Instrument sein, um auf Veränderungen der Gesundheitssituation früh zu reagieren. Dieses Potenzial wird jedoch von Gesundheitsfachpersonen wie auch von Angehörigen oft nicht (an-)erkannt. Dadurch leiden zum einen Qualität und Effizienz der Versorgung, zum anderen erleben dies die Live-in-Betreuerinnen als fehlende Anerkennung ihrer Arbeit. 

 

Lösungsansatz für diverse Spannungsfelder 

Ausgehend von den skizzierten Spannungsfeldern hat eine Gruppe von Fachpersonen im Projekt «Migrationsgestützte Betreuungsarbeit auf partnerschaftlicher Basis» im letzten Jahr mit Förderung der Walder- und der Accordeos-Stiftung ein Modell inkl. Umsetzungskonzept für den Einsatz von Care-MigrantInnen in der Live-in-Betreuung in der Schweiz erarbeitet. Sie verfolgten dabei zwei Hauptziele: 

 

1. Menschen mit Betreuungsbedarf, die zuhause wohnen, sollen bei Bedarf qualitativ gute, bezahlbare Betreuung durch Care-MigrantInnen erhalten.

2. Care-MigrantInnen, die über das neue Modell zum Einsatz kommen, sollen faire Arbeitsbedingungen vorfinden.

 

Zentrales Merkmal des Modells ist die Anbindung der Live-in-Betreuungspersonen an die Spitex. Das Modell sieht eine enge Zusammenarbeit zwischen einer Personalverleihagentur und einer Spitex-Organisation vor. Beide Organisationen verpflichten sich gleichermassen für eine gute Betreuungsqualität, einen respektvollen Umgang mit jenen, die Betreuung brauchen, wie auch für faire Arbeitsbedingungen der Betreuungspersonen einzustehen.

Durch diese Zusammenarbeit sollen Live-in-BetreuerInnen besser in das professionelle und informelle Care-Team integriert werden. Ausserdem ermöglicht diese Anbindung, dass Leistungen der Grundpflege, welche die Live-in-BetreuerInnen erbringen, über die Krankenkasse abgerechnet werden können. Dies soll Kosten für den Haushalt reduzieren und gleichzeitig die professionelle Rolle der Live-in-Betreuungspersonen stärken. Eine zentrale Herausforderung der Live-in-Betreuung, die leider auch das «FairCare Tandem-Modell» noch nicht zufriedenstellend hat lösen können, ist die zeitlich sehr umfassende Präsenzzeit. Hier braucht es weitere Massnahmen, um nachhaltige Lösungen zu entwickeln.

 

* Berner Fachhochschule im Departement Gesundheit, Kompetenzzentrum Partizipative Gesundheitsversorgung sowie Public Health Services. 

 

Das gesamte Modell kann hier eingesehen werden.

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