Zu wenig und zu langsam

Der Zürcher Gemeinderat sah sich mit einem unerwarteten Vorschlag der AL konfrontiert, und die Mehrheit zeigte sich unzufrieden mit dem stadträtlichen Tempo in Sachen Netto-Null-Ziel.

Die Sitzung des Zürcher Gemeinderats vom Mittwochabend begann mit dem Verlesen einer Fraktionserklärung – so weit, so normal, doch diese hatte es in sich: Der Co-Fraktionspräsident der AL, David Garcia Nuñez, hob an, nach der «emotionalen Wohnpolitik-Debatte» von letzter Woche brauche die Vorlage zum Paragraphen 49b einen «Reset» (vgl. P.S. vom 12. Januar sowie den Hintergrundartikel von Niklaus Scherr auf den Seiten 14/15 dieser Ausgabe). Es ging darum, wie die Wohnungen, die in der Stadt Zürich auf Basis des Artikels 49b des kantonalen Planungs- und Baugesetzes entstehen, zu bewirtschaften seien.

«Nicht einmal die neuen Regeln für die Vermietung städtischer Wohnungen führten zu derart grossem Zoff», sagte David Garcia Nuñez. Die AL habe die Gründe für diese «parlamentarische Entgleisung» analysiert und an ihrer Fraktionssitzung entschieden, der Vorlage in der Form, wie sie letzte Woche beschlossen wurde, «die Zustimmung zu verweigern»: «Wir tun das in der Hoffnung, dass die anderen Fraktionen unseren Antrag, die 49b-Weisung zurück an die zuständige Kommission zu überweisen, zustimmen.» Dann sollte es möglich sein, «Genossenschaften, Mieter- und Hauseigentümerverbände an einem runden Tisch zu versammeln». Die AL sei «überzeugt, dass auf dieser Basis ein Konsens gefunden werden kann, der im Rat und in der Bevölkerung grosse Akzeptanz finden wird».

Wie es nun weitergeht, wird sich weisen – die anderen Fraktionen wurden vom Manöver der AL überrascht und müssen die neue Sachlage erst diskutieren. Klar ist, dass die fertig beratene Vorlage, zu der eigentlich bloss noch die Schlussabstimmung ansteht, in selbiger keine Mehrheit mehr erhalten wird, wenn die AL dagegen stimmt. Wahrscheinlicher ist deshalb, dass der Wunsch der AL in Erfüllung geht, also Rückweisung und erneute Zuweisung an die vorberatende Kommission mit dem Auftrag, eine «bessere» Vorlage zuhanden des Plenums zu verabschieden.

«Unambitionierter Bericht»

Emotional wurde es sodann erneut, dieses Mal allerdings zu einem anderen umstrittenen Thema: Es ging um eine dringliche Motion der SP-, Grüne- und GLP-Fraktionen und der Parlamentsgruppe EVP betreffend «Anpassung der Verordnungen sowie der Bau- und Zonenordnung für einen massiven Zubau an Photovoltaik-Anlagen». Die bereits am 22. Mai 2019 eingereichte Motion, die der Rat am 12. Juni 2019 dringlich erklärt und am 25. September 2019 dem Stadtrat zur Prüfung überwiesen hatte, sollte nach dem Willen des Stadtrats abgeschrieben werden, denn unterdessen hatte dieser seine Photovoltaik-Strategie verabschiedet (siehe P.S. vom 24. September 2021). Der Gemeinderat lehnte dies am 2. Februar 2022 ab und gewährte dem Stadtrat eine Nachfrist zur Umsetzung der Motion. Anstatt einer Umsetzungsvorlage legte der Stadtrat dem Gemeinderat jedoch einen Bericht vor, in dem er begründet, weshalb er keine solche Vorlage ausgearbeitet hat. Das ist zwar sein gutes Recht, kam jedoch auf der linken Ratsseite schlecht an.

Doch der Reihe nach: Kommissionspräsident Johann Widmer (SVP) erklärte, der Stadtrat teile die Ansicht, dass das Photovoltaikpotenzial in der Stadt möglichst rasch erschlossen werden müsse, um die städtischen Klimaziele zu erreichen. Das im Rahmen der Photovoltaikstrategie formulierte Zubauziel für das Jahr 2030 sieht eine Produktion von 120 Gigawattstunden vor. Die mit der Motion geforderten mindestens zehn Prozent des städtischen Stromverbrauchs entsprächen rund 300 Gigawattstunden, führte Johann Widmer aus. Auch dieses Ziel liesse sich theoretisch erreichen, doch die praktische Umsetzung wäre «äusserst anspruchsvoll». Er verwies unter anderem auf die Dachsanierungszyklen, auf die es Rücksicht zu nehmen gelte, und darauf, dass Fassadenpanels bis vor Kurzem aufgrund eines – unterdessen zurückgenommenen – Verbots der Gebäudeversicherung nicht möglich gewesen seien.

Dominik Waser (Grüne) zeigte sich nicht nur über den Verlauf der Beratungen «sehr enttäuscht», sondern auch über den Vorsteher des Departements der Industriellen  Betriebe (DIB), Stadtrat Michael Baumer: Dieser habe einen «unambitionierten» Bericht vorgelegt, «den Parlamentswillen ignoriert», zwei Jahre «verplämperlet», die Kommission «vertröstet» und «so getan, als ob alles auf gutem Weg sei». Gehe es nach dem DIB, sei die Stadt beim öV, beim Strom, bei der Wärmeversorgung, ja überall stets am besten, und entsprechend heisse es dann, man sei ja schon so gut und müsse nicht noch mehr machen, fuhr Waser fort: «Doch es reicht nicht, wir sind nicht auf Kurs, wir sind nicht schnell genug unterwegs.» Sich auf den Standpunkt zu stellen, andere machten auch nicht mehr, sei ein «Irrweg» derer, die den Klimaschutz infrage stellten. Die Mehrheit nehme den Bericht nur «ablehnend» zur Kenntnis.

Beat Oberholzer (GLP) sagte, auch seine Fraktion schliesse sich der ablehnenden Kenntnisnahme an, denn auch die Grünliberalen fänden, dass «deutlich mehr drinliegt». Er anerkannte, dass das Departement und das EWZ ein paar Schritte in die richtige Richtung gemacht habe, doch jetzt müsse die Photovoltaik auf die Dächer. Das Potenzial liege bei 500 Gigawattstunden, und auch wenn 300 Gigawattstunden bis 2030 «wohl zu ambitioniert» seien, so sei es doch «mutlos», einfach an 120 Gigawattstunden festzuhalten.

Johann Widmer sprach von einem «Affront gegenüber den Mitarbeitern des EWZ», diese täten ihr Bestes. Es sei zwar «ein bisschen in der DNA der Grünen, zu meinen, sie könnten die Welt retten»… doch was sie wollten, sei unrealistisch und würde die Steuerzahler viel zu viel Geld kosten. Sein Fraktionskollege Bernhard im Oberdorf doppelte nach, die Grünen würden sich mit solchen Vorstössen «komplett vergaloppieren». Zur Erinnerung: Der Vorstoss stammte von der SP-, Grüne- und GLP-Fraktion sowie der Parlamentsgruppe EVP.

Wie man in den Wald ruft…

Stadtrat Baumer erklärte, man sei sich einig, die Photovoltaik in der Stadt so gut wie möglich auszunutzen, doch der Verlauf der Debatte hatte ihm offensichtlich nicht behagt. Den Vorwurf der Untätigkeit gab er zurück – die Kommission hätte ein Jahr lang Zeit gehabt, ihre Ideen einzubringen: «Vielleicht war das nicht so leicht, weil wir schon so weit sind…» Ihn «anzupflaumen», sei okay, fuhr er fort, doch zu behaupten, seine Mitarbeiter:innen seien nicht daran interessiert, dass es vorwärts gehe, sei eine Frechheit. Im Bericht stehe auch, dass 300 Gigawattstunden möglich seien, doch dafür müsste rund die Hälfte der Hausbesiter:innen Photovoltaikanlagen auf ihren Dächern montieren, und das ohne entsprechende Verpflichtung.

Mit 59 gegen 54 Stimmen nahm der Rat den Bericht schliesslich ablehnend zur Kenntnis, und die Motion schrieb er einstimmig ab – allerdings nicht ohne Hinweise von links, bald neue Vorstösse zu bringen, die in die Richtung der nun erledigten Motion weisen.

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