Selbstermächtigung

Frankensteins Monster bastelt sich eine Tochter, deren Entwicklung zur Persönlichkeit rasch unerwartet bei einer umfassenden Selbstbestimmtheit anlangt, die sie auch durchzusetzen vermag.

Der schottische Autor der Romanvorlage zu «Poor things» Alastair Gray wurde 1934 geboren. Die von ihm beschriebene rückwärtsgewandt erscheinende Zuschreibung einer Rolle für die noble Frau, die Bella Baxter (Emma Stone) in ihrem zweiten, künstlichen Leben in der Verfilmung von Yorgos Lanthimos so kolossal subversiv durchbricht, fusst also auf einem weitreichenden Beobachtungsschatz. Zuvorderst steht ihr Suizid als einziger Möglichkeit, der ehelichen Enge zu entrinnen. Diese ist dermassen furchtbar, dass sie ein solches Leben der unter ihrem Busen heranwachsenden Tochter lieber gleich erspart. Frankensteins Monster alias Godwin Baxter alias God (Willem Dafoe) erweckt das Kinderhirn im Mutterkörper zum neuen Leben und überspringt damit sinnbildlich gleich mehrere Generationen. Ihre Anfänge als Coppélia, dem künstlichen Mädchen im Ballett und damit das Schwarzweiss des Films überwindet sie, indem sie eine weitere, auf der Hand liegende Verehelichung mit dem ungelenken und noch keuschen Assistenten Gods Max McCandless (Ramy Youssef) mit dessen halbherziger Einwilligung ausschlägt, um sich auf einer klassischen Welterkundungsreise nach Lissabon, Alexandria und natürlich Paris erst mal zu einer eigens fühlbaren vollwertigen Persönlichkeit entwickeln zu dürfen. Allerdings sind ihre Antennen gegenüber der männlichen Niedertracht noch nicht ausreichend ausgeprägt, was sie den verlogenen Avancen des Parvenus Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) erliegen lässt. Immerhin zeichnet er sich durch die virtuoseste und ausdauerndste Libido aus, die ihr jemals überhaupt begegnen wird. Aber seine einseitige Perspektive auf Wohlstand, gepaart mit einem nicht auf Gegenliebe beruhenden Hang zum Glücksspiel, arbeitet seiner frühen Lebensfreude entgegen, er mutiert zur Last. Im Bordell von Madame Swiney (Kathryn Hunter) lernt sie ihren Körper als Kapital kennen und unternimmt einen weiteren grossen Schritt der Befreiung von der Rolle als Besitzstand eines einzelnen Mannes. Als sie die Nachricht von Gods bevorstehendem Ableben erreicht, eilt sie nach Hause, um zunächst in die Falle zu tappen, bei ihrem ursprünglichen Herrn Alfie Blessington (Christopher Abbott) sämtlicher Freiheiten wieder verlustig zu gehen, aber auch ihr letzter Schritt in die komplette Selbstbestimmung glückt. Ein buntes, groteskes, lüsternes, hochgradig emanzipatorisches ergo politisches Märchen in einem überwältigend kitschigen Papptheaterdekor.

«Poor things» spielt in den Kinos Abaton, Arena, Corso, Frame, Houdini, Movie.

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.