Zu gross.

Ich muss es aufschreiben. Wiedergeben. Nicht weil es etwas ändert. Aber vielleicht wird es dadurch erträglicher. Denn diese Zahlen sind zu gross für mich. Einfach zu gross. 

 

Mädchen und Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren in 57 meist ärmeren Ländern wurden drei Fragen gestellt. Diese Mädchen und Frauen haben geantwortet. Es sind Mädchen und Frauen, denen die freie Entscheidung über ihren Körper verwehrt wird. Es sind hunderte Millionen. 

 

Während ich unter «My body, my choice» hauptsächlich das Recht auf Abtreibung verstehe, hat dieses Prinzip, diese Forderung nach absoluter Selbstbestimmung über den eigenen Körper für hunderte Millionen von Frauen eine völlig andere Bedeutung. Eine über Leben und Tod. So das Fazit des Berichts, den der UNO-Bevölkerungsfonds zur körperlichen Selbstbestimmung und Unversehrtheit von Mädchen und Frauen verfasst hat. 

 

Es sind drei Fragen: Wer über ihre medizinische Versorgung entscheide, wer darüber, ob sie verhüten oder nicht und ob man dem Partner auch Nein sagen könne, wenn man keinen Sex möchte. 

 

45 Prozent von ihnen können das alles nicht. Beinahe jede zweite Frau darf also ohne Einwilligung des Mannes keine frauenärztliche Untersuchung machen, nicht verhüten und nicht Nein sagen, wenn er Sex möchte und sie nicht. 4000 Frauen wurden jeden Tag des letzten Jahres unfreiwillig schwanger, noch mehr als sonst, nicht nur, weil der Mann sie geschwängert hat ohne ihre Zustimmung, sondern weil sie zusätzlich auch coronabedingt gar keinen Zugang zu Verhütungsmitteln mehr hatten. Das sind eineinhalb Millionen Frauen. In einem Jahr. Und das genau in jenen Ländern, in denen Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt die häufigste Todesursache für junge Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren ist. Hier haben Krise und Männer gleichermassen getötet.

 

In Indien bringen Männer jährlich um die 8000 Frauen um, weil die Mitgift tiefer war als erwartet. 28 Millionen Frauen sind weltweit versklavt. Das heisst, sie sind durch Zwangsarbeit, Zwangsprostitution, Menschenhandel oder Zwangsheirat eines jeden Rechts beraubt. Auch hier hat die Coronapandemie das Leben dieser Mädchen und Frauen noch verschlechtert. Ein dramatischer Anstieg bei der weiblichen Genitalverstümmelung wurde verzeichnet, es waren 11 000 Mädchen pro Tag im letzten Jahr. Also über vier Millionen. Weitere 650 Millionen Frauen wurden vor ihrem 18. Lebensjahr zwangsverheiratet, zum Eigentum des Mannes gemacht, jährlich kommen 12 Millionen Minderjährige dazu. In 43 der 57 untersuchten Länder ist Vergewaltigung in der Ehe kein Straftatbestand. Der Mann kann spätestens ab der Verheiratung mit einem Mädchen über dessen Körper verfügen.

 

Viele der befragten Frauen, so der Bericht, wissen nicht, dass sie Rechte hätten. Und sie wissen vor allem nichts von «My body, my choice», sie haben noch nie davon gehört. Bildung spielt eine grosse Rolle, bei beiden Geschlechtern. Je höher der Bildungsstand, desto höher die Selbstbestimmung der Frau, desto weniger Gewalt beim Mann. Im Moment ist Bildung für diese Mädchen und Frauen aber in ebenso unerreichbarer Ferne wie die Unversehrtheit ihrer Körper, ihrer Würde, ihres Lebens.

 

Es sind hunderte Millionen Frauen und Mädchen. Diese Zahl ist zu gross. Zu gross für uns alle. 

 

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