«Wir müssen die europapolitische Diskussion ohne Tabus angehen»

Die Schweiz hat die Verhandlungen zum Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU abgebrochen. Cédric Wermuth, Co-Präsident der SP Schweiz, erklärt im Gespräch mit Roxane Steiger, was er an diesem Entscheid bedauert und weshalb die Schweiz am europäischen Projekt mitanpacken muss. 

 

Die SP und die Gewerkschaften wehrten sich beim Rahmenabkommen gegen die Schwächung des Lohnschutzes. Nun hat der Bundesrat vergangenen Mittwoch die Verhandlungen mit der EU abgebrochen. Die Gewerkschaften begrüssen diesen Entscheid, die SP bedauert ihn. Wieso?

Cédric Wermuth: In erster Linie bedauern wir das ergebnislose Ende eines langjährigen Verhandlungsprozesses. Es hätte durchaus Möglichkeiten gegeben, dass sich die Schweiz und die EU einigen. Zu diesem mangelnden politischen Willen gehört der Versuch, den Lohnschutz zu schwächen und die teilweise sehr ideologische Position der EU-Kommission in diesen Fragen. Gleichzeitig bin ich erleichtert, dass der Lohnschutz vorläufig gesichert ist. Wir müssen nun schauen, dass der konstruktive Dialog mit der EU weitergeht und zusammen mit allen proeuropäischen Kräften an einer positiven Zukunftsperspektive arbeiten.

 

War ein Scheitern des Abkommens zu erwarten oder sind Sie doch etwas erstaunt?

In den letzten Wochen hatte sich abgezeichnet, dass es aufgrund des vorliegenden Textes kaum mehr eine Lösung gibt. Dass der Entscheid so abrupt war kam für mich jedoch überraschend.

 

Sie zeigen sich enttäuscht, dass Ihr Verhandlungsvorschlag, die Unionsbürgerrichtlinie zu übernehmen und dafür Garantien beim Lohnschutz zu erhalten, sich für weitere Verhandlungen nicht durchsetzen konnte. Wieso wurde dieser Vorschlag nicht in Betracht gezogen?

Das liegt einerseits an einer fundamentalen ideologischen Position vonseiten der bürgerlichen Parteien in der Schweiz. Sie ziehen diesen Vorschlag aus reinem politischen Opportunismus und aus Angst vor der SVP nicht in Betracht. Andererseits war seitens der EU-Kommission auch keine Bereitschaft da, ernsthaft über einen echten Abtausch nachzudenken.

 

Sie schieben dem FDP-Aussenminister Ignazio Cassis für die heutige Situation die Schuld in die Schuhe. Wieso? Die linken Parteien und die Gewerkschaften tragen doch auch eine Mitschuld daran, dass der Bundesrat die Vorlage als chancenlos beurteilt.

Ende 1990er-Jahre haben die Linken und die Gewerkschaften erst dafür gesorgt, dass es nach dem Nein zum EWR 1992 für die Schweiz überhaupt eine europapolitische Perspektive gibt. Die flankierenden Massnahmen mit der Personenfreizügigkeit zu koppeln, war eine linke Idee, die schliesslich die Lösung brachte. Der innenpolitische Konsens in der Schweiz, mit dem Europapolitik gemacht wird, ist seit dem EWR-Nein derselbe: Marktöffnung im Gegenzug zur Weiterentwicklung des Sozialstaates und Kontrollen auf dem Arbeitsmarkt. Als Aussenminister Cassis und sein Departement im Jahr 2018 versuchten, hinter dem Rücken der Gewerkschaften die flankierenden Massnahmen zu schwächen, war das der Versuch, diese Allianz zu sprengen. Leider mit Erfolg. Es ist absurd, uns vorzuwerfen, wir hätten mit unserer Position die Europapolitik blockiert. Vielmehr wurde die SP in diese Position gedrängt. Der sozialpartnerschaftliche Lohnschutz ist keine Nebensache, sondern das absolute Fundament der Personenfreizügigkeit. Und das haben wir mit Überzeugung verteidigt. Wenn der Vorwurf ist, dass ich den Lohnschutz bis ans Ende verteidigt habe, fasse ich dies als Kompliment auf. Ein weiteres Problem war die ideologische Debatte um die Unionsbürgerrichtlinie. Die Rechte weigerte sich unverständlicherweise, dass Menschen, die hier arbeiten, auch in der Sozialhilfe angemessen behandelt werden. 

 

Die einen sprechen von einer Katastrophe, die anderen scheinen die Entscheidung eher gelassen hinzunehmen. Was heisst das Scheitern des Rahmenabkommens für die bilateralen Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz?

Was das Scheitern des Rahmenabkommens für die bilateralen Beziehungen der EU und der Schweiz bedeutet, wird sich erst in den nächsten Monaten zeigen. Ich wehre mich genauso gegen Weltuntergangsszenarien wie gegen die Bagatellisierung. Die EU wird zurecht nicht mit Begeisterung auf den Verhandlungsabbruch reagieren. In nächster Zeit erwarten uns schwierige Verhandlungen. Wichtig ist, dass wir jetzt möglichst konstruktive Vorschläge machen, damit solche Szenarien nicht eintreten.

 

Der Bundesrat begründet den Abbruch der Verhandlungen unter anderem damit, dass das Abkommen in einer Volksabstimmung chancenlos sei. Ist es nicht undemokratisch wenn dem Stimmvolk die Möglichkeit vorenthalten wird, sich zu dieser Frage auf demokratischem Weg zu äussern?

Mir scheint, das Volk hat sich mehrfach klar für gute Beziehungen ausgesprochen. Und es wird auch eines Tages nötig sein, diese Frage vor dem Volk wieder zu klären. Aber der Bundesrat muss hinter einer Vorlage stehen, um sie ins Parlament zu bringen. Der Verhandlungsabbruch ist ein Entscheid, den er fällen muss. Mit dem vorliegenden Text hätte man aber keine Lösung gefunden und auch keine Mehrheiten. Das wäre der europapolitische Super-Gau. Da bin ich mit dem Bundesrat einverstanden.

 

Die ‹Operation Libero› fordert, dass das Volk über das Rahmenabkommen abstimmen soll. Ausserdem ist im Parlament noch eine Motion offen, die den Bundesrat dazu auffordert, das Abkommen dem Parlament bis Ende Jahr zur Beratung zu übergeben. Damit liebäugelt zum Beispiel die GLP. Würde die SP hier mitanpacken?

Nein. Das ist absurde Wolkenschieberei. Der Bundesrat hat einen politischen Entscheid gefällt. Das ist chancenlos. Wenn man das macht, kann der Bundesrat nie mehr glaubwürdig auf der internationalen Bühne auftreten. Vor allem aber löst das Rahmenabkommen nur bei einer ganz kleinen, universitären Elite Begeisterung aus. Wir müssen jetzt nach vorne schauen und uns fragen, was wir aus dieser Situation machen können. Dazu gehört, dass wir die Kohäsionsmilliarde rasch deblockieren und den Betrag erhöhen – denn die Schweiz muss sich mehr an der europäischen Solidarität beteiligen.

 

Stichwort europäische Solidarität: Sie bekämpften das Rahmenabkommen, nun wollen Sie über Beitrittsverhandlungen diskutieren. Wieso sollte die SP in ihrer Europapolitik solche Verhandlungen in Betracht ziehen?

Im Parteipräsidium haben wir entschieden, dass wir eine Aktualisierung der europapolitischen Position der SP aufgrund der aktuellen Umstände vornehmen wollen. Wir sind der Ansicht, dass die Schweiz die europapolitische Diskussion ohne Tabus angehen sollte. Wie beim Rahmenabkommen würde die SP bei Beitrittsverhandlungen anhand des Resultats entscheiden, ob sie den Beitritt wirklich will. Es gibt jetzt verschiedene denkbare Varianten eines besseren Rahmenabkommens, über den EWR bis zum Beitritt. Meines Erachtens ist ein EU-Beitritt unter dem Strich für die SP immer noch ein Ziel, an dem wir festhalten müssten.  

 

Ein EU-Beitritt würde die Löhne aber auch nicht besser schützen?

Einen Unterschied zwischen uns und Mitgliedstaaten können wir aktuell bei den Verhandlungen zu der neuen Mindestlohnrichtlinie beobachten. Die nordischen Länder wehren sich stark dagegen, weil sie ihr sozialpartnerschaftliches Modell infrage gestellt sehen. Aber sie haben die Möglichkeit, im EU-Parlament entsprechende Vorschläge zu machen. Auch die Zivilgesellschaft kann sich im Prozess einbringen. Somit hätte man dieses massive demokratische Problem nicht, das wir mit dem Rahmenabkommen gehabt hätten. Das Rahmenabkommen wäre faktisch die Verewigung des Souveränitätsverlustes für die Schweiz gewesen. Klar, es gibt im globalen Zeitalter keine echte Souveränität mehr ohne supranationale Mitbestimmung. Aber für die Mitgliedsländer sind die Spielräume viel grösser. 

Ich denke, man müsste in Beitrittsverhandlungen am Schweizer System der flankierenden Massnahmen ebenfalls festhalten. Die Akzeptanz der EU für Kompromisse wäre dann aber sicher höher als bei einem knausrigen Drittstaat wie der Schweiz, die sich an keinem Programm beteiligt. Auch wenn ein EU-Beitritt derzeit nicht mehrheitsfähig ist: Ich glaube, die Partei muss sich diese Option zumindest offenhalten. Darum handelt es sich um eine legitime Debatte.

 

Für die Zukunft wollen Sie also mehr Europa. Wie gelangen wir dorthin? Wie und wo gedenken Sie mit der SP dort konkret anzusetzen?

Da gibt es zwei Ansätze. Wir haben in Bundesbern jetzt lange über institutionelle Fragen gesprochen, was relativ weit weg ist vom realen Leben. Wir müssen Europapolitik wieder über den Inhalt machen. Die Schweiz muss sich solidarisch zeigen im Kampf gegen den Klimawandel, der Flüchtlingskrise, der Unternehmensbesteuerung oder dem Wiederaufbau von Post-Covid. Und wir müssen die Zusammenarbeit im Konkreten suchen, bei der Bildung, Forschung, Kultur, etc. Andererseits muss sich die SP stärker in europäische Gremien der Sozialdemokratie einbringen. So können wir bereits heute an diesem sozialen Europa mitarbeiten. Die Verteidigung des Lohnschutzes war für mich immer Teil eines proeuropäischen Kampfes für ein besseres Europa. Das müssen wir stärker unter Beweis stellen als in den letzten Jahren. Zum Beispiel hat die SP immer wieder Kampa­gnen in der Schweiz für die europäische Sozialdemokratie und die Europawahlen gemacht. Wir wollen aber die Zusammenarbeit mit unseren Schwesterparteien stark ausbauen. Es gibt jetzt spannende Ansatzpunkte in der Politik der Union. 

 

Wie meinen Sie das?

Die EU entwickelt sich zaghaft in die richtige Richtung, gerade bei den Löhnen. Es ist unser Auftrag, diese Entwicklung zu unterstützen. Wenn wir zum Beispiel nach der Kanzlerwahl in Deutschland einen roten oder Kanzler oder eine grünen Kanzlerin hätten, kann die europapolitische Stimmung schnell ins Positive kippen. Auch ich blicke nicht ohne Kritik auf die Art und Weise, wie die europäische Union heute aufgestellt ist. Im Gegenteil. Die EU hat fundamentale Probleme. Sie ist von einem stark neoliberalen Wirtschaftsprogramm geprägt, das Demokratiedefizit ist augenfällig, der Umgang mit Flüchtlingen eine Schande. Aber es gibt keine andere Perspektive als positive Reformen der Union. Ein Zerfall Europas in reine Nationalstaaten ist per se keine Perspektive. Das kann nur reaktionär enden. Deshalb muss die Schweiz am europäischen Projekt mitanpacken. Das machen wir meines Erachtens noch zu wenig.

 

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