Alternativen der Landwirtschaft

Landwirtschaft ist ein zunehmend vergiftetes Terrain – nicht nur, wenn es um Pestizide geht. Statt diskutiert wird in der Agrarpolitik polarisiert. Fast alle beschwören eine Wende, einige auch das Ende dessen, was gerade die Schweiz über Jahrhunderte, Jahrtausende prägte. Hier ein differenzierender Debattenbeitrag und eine zeitgeistige Horrorvision.

 

Hans Steiger

Es war gut, die zwei Bücher in den Wochen zu lesen, als der Krieg um angeblich extreme Agrarinitiativen mit immer wirreren Fronten seinem Höhepunkt zu trieb. Wenn das ganze Problemfeld aktueller Landwirtschaftspolitik zumindest in Umrissen sichtbar wird, relativiert dies den Streit um Auswirkungen der Anti-Pestizid-Initiativen. Zugleich war der Kontrast zum Propagandagetümmel rundum deprimierend. Wenn es nicht einmal hier möglich ist, sachbezogen zu diskutieren – kann dann direkte Demokratie in komplexeren Umfeldern noch funktionieren? Um den Problemhintergrund und alternative Zukunftsperspektiven zu erkennen, taugen Argumentationen wenig, die durch das Schüren von Emotionen nur noch ein Ja oder Nein gewinnen wollen.

 

Zusammenwirken statt Polarisieren

Urs Niggli, der ab 1990 drei Jahrzehnte das Forschungsinstitut für biologischen Landbau leitete, fasst seine Erfahrungen als Wissenschaftler und beratender Praktiker in einem verständlichen Bilanz-Buch offen und undogmatisch zusammen. «Alle satt?» könnte für Gutwillige beider Seiten die Basis sein, um nach dem Aufräumen des Scherbenhaufens vom 13. Juni aus der Polarisierung heraus und zum Zusammenwirken zu kommen. Als globale Leitlinie wird der 2008 veröffentlichte Weltagrarbericht empfohlen. Ihm kommt in seinem Bereich eine ähnliche Bedeutung zu wie den Weltklimaberichten. Neben sozialen und ökonomischen Aspekten, zumal der Sicherung der Nahrung in allen Weltregionen, geht es da um Agrarökologie. Die natürliche Vielfalt wird als Voraussetzung nachhaltiger Landwirtschaft anerkannt. Diese erfordert angepasste Methoden für den Erhalt und die Förderung der Bodenfruchtbarkeit, zur Integration von Tierhaltung und Pflanzenbau, zur Schliessung der Stoffkreisläufe. Die entsprechenden Techniken können erfolgreich sein, «wenn sie das lokal vorhandene bäuerliche Wissen nutzen und weiterentwickeln». Bauern und Bäuerinnen in Lateinamerika, Afrika und Asien wären so im Bestreben zu bestärken, sich von Zwängen des Welthandels zu befreien. Postulate des Berichts sind denn auch zum Teil in die UNO-Nachhaltigkeitsziele für das Jahr 2030 eingeflossen. Sie enthalten aber viel gesellschaftlichen Konfliktstoff, weil vor allem in agrarindustriellen Sektoren radikale Veränderungen einzuleiten wären.

Das heute zentrale Problem wird deutlich angesprochen. Wiederholt taucht im Buch ein Zitat von Mahatma Gandhi auf: «Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.» In der neueren Nachhaltigkeitsdebatte nimmt der Begriff der Suffizienz diese Erkenntnis auf. Wolfgang Sachs etwa stellt sie als «kluge Beschränkung der Ziele» gleichrangig neben die Effizienz, welche eine «intelligente Rationalisierung der Mittel» will. Auf der Konsumseite müsste dies bezüglich Ernährung heissen: Viel weniger Fleisch, zumal von Schweinen und Hühnern. Darum ist es ein guter Trend, wenn bei uns eine vegane Welle zu einer Renaissance der Hülsenfrüchte führt. «Die gesunde Nahrung auf dem Teller muss dabei mit dem Anbauplan für den Acker übereinstimmen.» Hier hätten Produzierende wie Konsumierende noch zu lernen, aber es wäre «der einfachste Weg» in ein besseres System. «Wenn’s mit der Mässigung nicht klappt: Innovation, das goldene Kalb!» In diesem Kapiteltitel klingen die Zweifel des Autors an, ob der Wandel rasch genug erfolgt. Biolandbau habe ursprünglich auf einen neuen Lebensstil und alternative Formen der Wirtschaft gezielt, sei aber von der Marktwirtschaft eingeholt worden. Nun stellt der Handel die Weichen, fordert laufend weitere Innovationen. Zwar wäre «die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die teure Technologien meidet, dafür das Naturkapital schonend und clever einsetzt», das Zukunftsmodell. «Doch die Verhältnisse», erklang Brecht beim Lesen in meinem linken Ohr, «sie sind nicht so». Also legt Nigg­li betont unideologisch dar, wo er technologische Errungenschaften für hilfreich hält. Für einen Bio-Pionier geht er dabei ziemlich weit. So sei die sogenannte Bionik «ein spannendes Gebiet, auch wenn es nicht zum überbordenden Naturverständnis des Biolandbaus passt». Warum nicht gezielt jene Gene «ausschalten», die Türöffner für Infektionen sind? Und in den bei Amazon bestellten Biopaketen könnten doch QR-Codes über die glücklichen Hühner informieren … Kurz vor Schluss wird der Provokateur wieder zum Brückenbauer: «Um das Ziel einer nachhaltigen Landwirtschaft und Ernährung zu erreichen, werden sämtliche Arten der Innovation notwendig sein.»

Offenbar interessiert seine Intervention; das im Januar in Österreich erschienene Buch des Schweizers liegt jetzt in zweiter Auflage vor. Es passt bestens in die Reihe «Leben auf Sicht», wo Martin Grassberger als Humanbiologe und Arzt bereits 2019 erklärte, «warum wir eine landwirtschaftliche Revolution brauchen, um eine gesunde Zukunft zu haben». Dies vor Corona, doch mit passenden Hinweisen auf den Zusammenhang globaler Gesundheits- und Umweltkrisen.

 

Ab in den totalen Ökomodernismus

Aber wir wechseln hier zu einem anderen Verlag, folgen einer anderen Spur. Oekom in München hat sich in drei Jahrzehnten als Fachverlag für Ökologie und Nachhaltigkeit profiliert, vielleicht etwas gar viel, aber meist Vertretbares publiziert. Es gab also gute Gründe, das «Plädoyer für eine Postlandwirtschaftliche Revolution» zu bestellen – trotz ungutem Gefühl. Denn das «Ende der Landwirtschaft», das Oliver Stengel ausruft, soll nicht nur die im Untertitel versprochene neue Wildnis bringen sowie Nahrung für alle. Es ist auch von einer «Erde 3.0» die Rede und bald wird klar, dass da einer für eine zeitgeistige Paradieswelt missioniert. Der als Professor für nachhaltige Entwicklung etablierte Soziologe proklamiert den «Ökomodernismus». Vor zehn Jahren noch hatte er in seiner Dissertation für «Suffizienz» plädiert, um der «Konsumgesellschaft in der ökologischen Krise» einen Ausweg zu weisen. Ob dies auch bei den zwischenzeitlichen Lehraufträgen an der Uni Zürich sein Credo war, weiss ich nicht. Aber zum Start an der Hochschule Bochum präsentiert er Besseres: Verzicht braucht es nicht! Wir schaffen das auf elegantere Weise.

Dabei gibt es zuerst viele Parallelen zur oben skizzierten Argumentation von Urs Nigg­li. Die dort entwickelte Perspektive könnte eine Wunschvorstellung sein. Doch bei Stengel scheint der Fall klar: Konsumverzicht, besonders beim Fleisch, bleibt eine Illusion. Bald sind wir zehn oder elf Milliarden «immer pummeliger werdende Menschen», und «die wollen essen, in die globale Konsumentenklasse aufsteigen, sich amüsieren». Die meisten haben mit Natur wenig am Hut, denn längst prägt die «Technosphäre» unsere Welt. Statt das zu beklagen, sollten wir ihre Möglichkeiten nutzen. Fleisch lässt sich ohne Tiere produzieren, Pflanzen ohne Boden. Der im Labor aus Stammzellen entwickelte, in Bioreaktoren und Fabrikationsanlagen produzierte, genetisch optimierte Superfood wird immer perfekter. Warum also weiter Land dafür vergeuden, Emissionen auslösen oder Ethikdebatten um Tierwohl führen? Wer nun meint, der Mann überspitze seine Vision zur Abschreckung, täuscht sich. Er treibt sie gnadenlos weiter. Bedenken, das sei doch wohl alles sehr energieintensiv? Ja, das AKW-Nein wäre zu überprüfen. Sollte es Engpässe bei raren Materialien geben, steht uns der Weltraum zur Verfügung. Auch die Fortschritte in der Raumfahrt sind rasant. Sie ermöglichen mehr, als Zaudernde glauben. Tourismus im All steht bevor. Und wenn einmal alle die Chance haben, die Erde zu umkreisen, wird der enge Nationalismus «einem Kosmopolitismus weichen», denn «von oben betrachtet, sind keine Ländergrenzen zu sehen». Dafür die Schönheiten eines Planeten, auf dem der urbane Homo sapiens einer wilden Natur ihren Teil zurückgegeben hat. Das möge wie Zauber klingen, sei aber der einzig gangbare Weg, die Postlandwirtschaft also ein notweniger Schritt.

 

Politisch gefährliche «rosa Zukunft»

Warum so viel Platz für so ein Buch? Es ist auf seine Art bemerkenswert – als Warnung! Denn solche Visionen, die politisch bequeme Illusionen befördern, schleichen sich mehr und mehr in die Krisendebatten ein. In die aktuelle Propaganda gegen das CO2-Gesetz zum Beispiel: Mit neuen Technologien liessen sich Klimaprobleme lösen, ohne uns Opfer abzuverlangen. Aber auch der publizistisch vielseitige Politplayer Peter Bodenmann, einst immerhin SP-Schweiz-Präsident, sendet solche Signale. In der von ihm im Gewerkschaftsblatt ‹Work› seit Jahren anonym betreuten und mit «Rosa Zukunft» überschriebenen Rubrik zu «Technik, Umwelt, Politik» war Jubel: «Pestizide adieu!» Denn «ein sensationeller Unkraut-Roboter» wird die mühselige Drecksarbeit übernehmen. Das in den USA entwickelte Gerät namens Dick operiere mit Stromschlägen statt mit Gift und schaffe pro 8-Stunden-Schicht locker 20 Hektaren, also pro Tag deren 60. «600 kleine, feine Dickerchen genügen, um acht Mal pro Jahr die gesamte landwirtschaftliche Fläche der Schweiz ohne Pestizide umweltfreundlich zu jäten.» In anderen Punkten scheint die Vision des Hoteliers aus Brig mit der des Professors aus Bochum kompatibel. Laborfleisch dürfte bald «konkurrenzfähig» sein, wäre billiger und ebenfalls umweltfreundlich. Bei den Pflanzen sind gentechnische Durchbrüche zu erwarten. «Ist das gut oder schlecht? Die Meinungen sind geteilt.» Doch die Neigung ist unverkennbar: rosa Zukunft eben. Wie immer werde nicht alles im ersten Anlauf funktionieren, aber irgendwann in den nächsten Jahren …

 

Lieber solidarisch als radikal digital

Bereits vor zwei Jahren las ich eine Schrift, die total digitale Landwirtschaft imaginierte, allerdings im Science-Fiction-Stil, mit Krimi-Elementen und gegen einen überbordenden «Digitalisierungshype» gerichtet. Erschienen ist die Story mit einem (Cyber-)«Krieg im Kornfeld» im Titel in der Reihe «Agrarkultur im 21. Jahrhundert». Dort wird immer wieder Bemerkenswertes zu Agraralternativen vorgelegt. In einem «Land-Wende»-Essay etwa wurden Wege aus der Wachstums- und Wettbewerbsfalle gesucht. Andere setzten gleich Ausrufezeichen: «Verkaufen können wir selber!» oder «Esst anders!» Bald zehn Auflagen erreichte Anita Idel mit ihrer Argumentation gegen ein populär-populistisches Klischee: «Die Kuh ist kein Klimakiller! Wie die Agrarindustrie die Erde verwüstet und was wir dagegen tun können.» Nebst dieser Serie liegt beim Metropolis-Verlag eine dicke, 2019 erschienene Dokumentation zu einem deutschen Forschungsprojekt vor, in der Theorie und Praxis verknüpft wird. Sie ist trotz abschreckendem Titel gut lesbar: «Transformative Unternehmen und die Wende in der Ernährungswirtschaft». Zu den Herausgebern gehört Niko Paech, mit dabei Andrea Baier und Christa Müller. Nur schon die Firmenporträts im Anhang sind ein ermunterndes Zeichen, dass die solidarische Landwirtschaft kein Traum ist. Ein paar Namen: Ackerhelden, Annalinde, Food Coop, Kartoffelkombinat … Leider ist das bei Rotpunkt publizierte «Gemeinsam auf dem Acker» vergriffen. Dort wurde 2015 die solidarische Landwirtschaft in der Schweiz präsentiert. Doch wer sucht, wird sie finden: das Reportage-Buch wie die solidarischen Betriebe. Wir müssten nur wirklich wollen, dass diese andere Art des Landwirtschaftens an Boden gewinnt.

 

Urs Niggli: Alle satt? Ernährung sichern für 10 Milliarden Menschen. Residenz-Verlag, Salzburg 2021, 158 Seiten, 26.90 Franken.

Oliver Stengel: Vom Ende der Landwirtschaft. Wie wir die Menschheit ernähren und die Wildnis zurückkehren lassen. Plädoyer für eine Postlandwirtschaftliche Revolution. Oekom-Verlag, München 2021, 239 Seiten, 28.90 Franken.

 

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