«Wir müssen aufhören, über jedes Stöckchen zu springen, das uns die Hetzer:innen hinhalten»

Das neuste Buch aus der Essayreihe der Edition Patrick Frey untersucht den Kampf gegen «Gender-Wahn» in Polen. Im Gespräch mit Tim Haag erklären die Herausgeber:innen Peter Schneider und Alexandra Papadopoulos, warum das Thema so viele Gemüter in Wallung zu bringen vermag.

Wenn die Anti-Gender-Bewegung ein Gesicht hätte, wie würde das aussehen?

Alexandra Papadopoulos: So wie ich? 

Peter Schneider: Eine Mischung aus Söder, Trump, Alice Weidel, Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht.

A. P.: Eben, so wie ich. 

Ein ziemlich westliches Gesicht. Im neusten Buch, dass Sie in der EPF-Essayreihe herausgeben, geht es aber um Polen. Warum gerade Polen?

A. P.: Auch wenn die englische Originalausgabe schon zwei Jahre alt ist, ist es unserer Meinung nach hochaktuell. Die rechte Politik in Polen war für mich eine völlig neue Welt, deren Anti-Gender-Bewegung zwar einige Ähnlichkeiten mit den Bewegungen im deutschsprachigen Raum aufweist, aber auch einige bedeutende Unterschiede. Das fand ich interessant. 

P. S.: Ein weiterer Grund, warum das Buch – das voraussichtlich ab Sommer zu kaufen ist – so aktuell ist, ist die Ausrichtung von Zeitungen wie der NZZ, die im Wochenrhythmus ein bis zwei Anti-Woke-Warnartikel publiziert. Es ist ein ganzes Konglomerat, Anti-Gender, Anti-Woke, Anti-Cancel-Culture, Anti-Appropriation-Culture, wo es darum geht, irgendwelche Absurditäten aus irgendwelchen Universitäten anzuführen und diese zu einer weltweiten Verschwörung zu stilisieren. Während in Russland LGBTQI+-Aktivist:innen kriminalisiert werden und in republikanischen Staaten in den USA Bibliotheken von Inhalten gesäubert werden,  die sich zu sehr mit Critical-Race-Theorie beschäftigen. Völligen Realitätsverlust beweist der Papst, wenn er die «Gender-Ideologie» als «hässlichste Gefahr für die Menschheit» bezeichnet. Man darf das Kind allerdings auch nicht mit dem Bade ausschütten, es gibt Antisemitismus in den Post-Colonial-Studies, oder den Fall des Instituts für Islamistik an der Uni Bern. Fakt ist aber: Das ganze Thema wird von rechtskonservativer Seite extrem aufgebauscht.

Wie sieht der polnische Anti-Gender-Kampf denn aus?

A. P.: In der osteuropäischen Rechten, besonders in Polen, findet sich eine Denkfigur, die ihre Wurzeln im Antisemitismus hat: die Vorstellung einer kleinen Elite, die die breite Masse der Bürger unterdrückt. Diese Idee war bereits in den 1990er- Jahren ein zentraler Bestandteil der katholisch geprägten antikommunistischen Opposition in Polen. Unter der PiS-Regierung, die bis zum letzten Dezember an der Macht war, hat sich diese Rhetorik noch intensiviert. Die polnische Mutter, so wird suggeriert, werde durch EU und Neoliberalismus bedroht, die traditionelle Kernfamilie und «polnische Werte» kulturell zerstört. Mit diesem Framing will eine vermeintliche kulturelle und ökonomische «Kolonisierung» durch den Westen bekämpft werden.

Gibt es dieses Framing nicht auch in Teilen Europas?

P. S.: Dieser antikolonialistische Diskurs findet sich auch in den östlichen Bundesländern Deutschlands, wo ähnliche Ressentiments gegen die EU und den Westen bestehen. Der Kampf gegen die Institutionalisierung von Hausarbeit aber zeigt die Unterschiede zwischen ostdeutschem und polnischem Kontext. Die PiS hat mit ihrer Politik eine konservative, autoritäre Vision eines starken Wohlfahrtsstaats verfolgt, der traditionelle, heterosexuelle Familienmodelle mit Geld unterstützt und von der Ideologie «Lokal gegen Global» getragen wird. «Wir haben unsere lokale Kultur, die es zu unterstützen gilt, während die Globalisten bekämpft werden müssen.» Im Vergleich ist bei der Sozialpolitik der AfD rassifiziert, wer unterstützt werden soll und wer nicht. 

A. P.: Vereinfacht gesagt ist es AfD-Faschismus versus, wie die beiden Autorinnen es beschreiben, katholisch-konservativen Nationalismus. Und da ist das Gender-Thema extrem wichtig, denn damit grenzen sie sich ab.

Wichtiger als bei der AfD?

P. S.: Alle rechten Bewegungen bedienen sich des Anti-Gender-Themas. In Bayern etwa wurde kürzlich der Genderstern verboten. Ich denke aber, dass das in Polen eine viel bedeutendere Rolle hat. Eine Alice Weidel hätte es mit ihrer sexuellen Orientierung nie die Spitze der PiS geschafft – bei der AfD kann sie ja einfach kurz weghören, wenn es wieder einmal um homophobe Inhalte geht. Dieses antifeministische, anti-LGBT und anti-moderne Denken dient in Polen als Kitt, der konservative Kräfte vereint. Die Autorinnen sprechen im Buch von «opportunistischen Synergien». Graff und Korolczuk verdeutlichen, wie auch scheinbar unvereinbare politische Kräfte in diesen opportunistischen Synergien zusammenfinden. Diese Querfronttendenzen gibt es übrigens auch in der Schweiz. Zum Beispiel die 99%-Initiative, die mit ihrem unglücklichen Titel ja auch das Volk der Elite gegenüberstellte, hatte schon gewisse Ähnlichkeiten mit dem rechten Narrativ.

Das tönt nach Hufeisentheorie.

P. S.: Ja, aber Hufeisen-Theoretiker bin ich nicht, weil meiner Erfahrung nach die Hufeisentheorie sehr unterkomplex ist, so in Richtung «die Linke Antifa trägt dieselben Turnschuhe wie die Identitären.» Es ist wichtig, die Unterschiede und die spezifischen Kontexte zu betrachten. Zum Beispiel hat die Anti-Gender-Ideologie in Osteuropa teilweise «antikolonialistische» Züge, die man auch bei einigen linken Bewegungen finden kann, genauso wie es eine Art von Anti-Modernismus gibt, die Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht vereint, trotz ihrer unterschiedlichen politischen Ausrichtungen.

Warum schafft es der Kampf gegen LGBTQ und Gender, so viele wütende Stimmen hinter sich zu vereinen?

P. S.: Weil sich mit dem Thema gesellschaftliche Entwicklungen hervorragend individualisieren lassen. Sobald es um die Familie geht, geht es ums Eingemachte. Die Frage zu Pubertätsblockern und Transition beispielsweise werden als direkte Bedrohung für die Familie inszeniert, mittlerweile ist daraus ein Kulturkampf geworden. Mit Narrativen wie «die bedrohen unsere Kinder, die diagnostizieren die, die schneiden denen schon die Brüste ab, bevor sie überhaupt gewachsen sind» etc. wird das Thema emotional aufgeladen. 

A. P.: Die Strategie dahinter ist klar: gesellschaftliche Veränderungen dämonisieren und so ein breites Bündnis gegen vermeintliche Bedrohungen schmieden.

Kampfbegriffe wie «Gender-Gaga» und «Woke-Wahnsinn» sind allgegenwärtig. Warum haben diese Begriffe eine derart starke Zugkraft?

A. P.: Solche Kampfbegriffe schaffen es, komplexe Themen auf einfache, griffige Formeln zu reduzieren: «Deine Kinder werden durch Gender-Gaga verschwult». Dieser Mechanismus funktioniert besonders gut in den sozialen Medien, wo schnelle und einfache Botschaften eine weite Verbreitung finden. Im Gegensatz zu komplexeren Themen wie «Globalisierungskritik» oder Antisemitismus, die eine tiefere Auseinandersetzung erfordern, sind diese Begriffe leichter zugänglich und inhärent emotional aufgeladen. Auch hier ist klar: Sie dienen nicht der Debatte, sondern sind rhetorische Waffen, die darauf abzielen, Fortschritt und Pluralismus zu diskreditieren. Die einfache Dichotomie von richtig und falsch, die durch solche Kampfbegriffe gefördert wird, findet Anklang bei Personen, die nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen suchen. Sie sind letztlich ein rhetorischer Judogriff.

P. S.: Interessant finde ich auch die Verschiebung des Diskurses: Früher war «das Persönliche ist das Politische» ein Leitsatz der Linken. Heute hat die Rechte diese Idee übernommen und nutzt sie, um Menschen auf einer sehr persönlichen Ebene zu erreichen und zu mobilisieren. Die Kampfbegriffe funktionieren, weil sie das Persönliche politisieren und auf diese Weise politische Diskurse in den Alltag der Menschen tragen.

Und was ist das Ziel dieses Kampfs – abgesehen vom Stimmenfang?

P. S.: Ich habe da eine steile These dazu: Die NZZ hat kürzlich in einem Schimpfe-Artikel mit dem Finger auf die Befürworter:innen der 13.-AHV-Initiative gezeigt und gesagt: «Ihr habt dafür gestimmt, jetzt sorgt ihr auch für die Finanzierung. Sie ist ganz böse mit all denen, die falsch abgestimt haben, mit denjenigen, die finden, sie können diese Erhöhung um 8,3Prozent bei allem Kaufkraftschwund gut gebrauchen. Die haben sich nicht mit den wichtigen Dingen im Leben – Kampf dem Genderstern und den Drag-Lesungen – befasst, sondern ganz schlicht für ihre eigenen ökonomischen Interessen gestimmt. Damit sind sie der rechten Politik ziemlich reingegrätscht. Für mich mutet diese rechte Anti-Gender-Gaga-Polemik immer etwas wie ein Ablenkungsmanöver an – im Gegensatz zu derjenigen in Polen. Einer NZZ das als gezielte Strategie zu unterstellen, wäre vielleicht zu konspirativ, aber einen Verdacht weckt es schon. 

A. P.: Ich glaube, da geht es einfach um eine Anpassung ans Leser:inneninteresse. Artikel, die gegen die LGBTQ-Community wettern, laufen gut, also werden mehr davon geschrieben.

Wie können feministische und LGBTQIA+-Bewegungen konkret gegen Anti-Gender-Politik vorgehen?

A. P.: Ein bemerkenswertes Beispiel für effektive Gegenbewegungen sind die «Schwarzen Proteste» in Polen 2016. Das Buch endet mit einem wunderschönen Kapitel, in dem die Autorinnen erzählen, wie sie an diesen Protesten teilgenommen haben. Ich finde es beeindruckend, wie dort eine junge, intersektionale Bewegung viele unterschiedliche Leute zusammengebracht hat. Nicht nur Feminist:innen und LGBTQIA+-Leute, sondern auch ganz normale Menschen haben sich solidarisiert. Diese Streiks haben gezeigt, dass man mit Zusammenhalt und Entschlossenheit wirklich was bewegen kann. Ein ähnliches Beispiel, an das ich mich persönlich gerne zurückerinnere, ist der Frauenstreik hier in der Schweiz 2019. Die Schwarzen Proteste in Polen haben einige Jahre später dazu geführt, dass die PiS nicht mehr die Regierung gestellt hat, und ich glaube, mehr breite, intersektionale Bewegungen würden auch der vom Antifeminismus verrosteten Schweiz guttun.

P. S.: Ich finde, wir könnten ruhig mit etwas mehr Snobbigkeit in die Diskussion zu gehen. Damit meine ich, unsere Argumente etwas zu akademisieren, sodass die Hetzer:innen, die sich mit dem Thema  gar nicht wirklich beschäftigt haben, vielleicht manche Wörter gar nicht mehr verstehen. Es geht nicht darum, elitär zu sein, sondern um die Forderung, dass sich Teilnehmer:innen der Debatte auch wirklich mit den Inhalten beschäftigen.

Ist das ein Plädoyer gegen linken Populismus?

P. S.: Ja.

A. P.: Und vor allem gegen Empörung. Wir müssen versuchen, weniger in die Falle der Empörung zu tappen, und über jedes Stöckchen zu springen, dass uns von den Hetzer:innen auf Twitter hingehalten wird.

Ist es nicht wichtig, Hass und Hetze dort zu bekämpfen, wo man sie antrifft, anstatt sie unkommentiert stehenzulassen?

A. P.: Natürlich, wir müssen unbedingt dagegenhalten. Aber es ist entscheidend, dass wir dabei auch einmal schneller und klüger agieren als sie. Mich stört an der linken Szene in den sozialen Medien oft, dass sie zu reflexartig auf die Köder der Rechten anspringt, anstatt eigene, fundierte Analysen vorzunehmen. Es gibt aber auch einige Accounts, beispielsweise «Farb und Beton», die mit gutem Vorbild vorangehen.

Zusammengefasst: Auf die Strasse gehen, an Flughöhe gewinnen, nicht mehr über die Stöcklein springen?

A. P.: Und die Bücher der EPF-Essayreihe kaufen.

 

Peter Schneider über Die EPF-Essays: 

«Die Bände der Reihe sind Versuche zur Desorientierung in einer immer übersichtlicher werdenden Welt. Ihre Themen sind beliebig, aber exemplarisch. Sie bilden Knoten in einem Netz, das aus den Fäden Philosophie, Soziologie, Wissenschaftsforschung, Ökonomie, Kulturwissenschaft, Psychoanalyse, Kunst, Politik gewoben ist. Diese Aufzählung ist nicht abschliessend. Ihr Programm ist streng adisziplinär und folgt den launischen Interessen respektive interessierten Launen der Herausgeber:innen Dana Mahr, Alexandra Papadopoulos und Peter Schneider.»

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