Wer profitiert von Tempo 30?

Die Bürgerlichen wollen den Städten vorschreiben, wo künftig mit Tempo 50 gefahren werden muss, der Regierungsrat macht mit. Dabei tönte es von der Regierung vor nicht allzu langer Zeit noch ganz anders.

Die SP Zürich reagiert mit einer Petition auf eine Mitteilung des Regierungsrats von letzter Woche: Die Zürcher Regierung unterstützt die Mobilitätsinitiative und will die ÖV-Initiative mit einem Gegenvorschlag umsetzen (siehe P.S. vom 22. März). Die Initiativen stammen von FDP und SVP. Im Petitionstext der SP heisst es, im Bundeshaus habe sich die Autolobby in der Frühlingssession bereits durchsetzen können. Nun unterstütze der Regierungsrat die Mobilitätsinitiative und wolle auch die ÖV-Initiative «mit einem Gegenvorschlag weitestgehend umsetzen»: «Damit könnte der Kanton den Städten künftig Tempo 50 einfach vorschreiben.» Das will sich die SP nicht gefallen lassen: «Wir wehren uns gegen diese Bevormundung der Städte und gegen noch mehr Lärm und Unfälle in den Quartieren!», heisst es im Text der «Petition gegen den Angriff auf Tempo 30», die man auf der Webseite der SP unterschreiben kann (https://spzuerich.ch/kampagne/petition-tempo-30/).

Stau da, Stau weg

Wer an einer viel befahrenen Strasse wohnt, sieht zu den Stosszeiten regelmässig an immer denselben Orten im Stau stehende Autos – und das selbst dann, wenn es sich um eine Strasse handelt, auf der Tempo 50 signalisiert ist. Sind die Stosszeiten vorbei, fliesst der Verkehr wieder. Jener Stau wiederum, der ausser­ordentlichen Ereignissen wie etwa Unfällen geschuldet ist, hat kaum etwas mit der signalisierten Höchstgeschwindigkeit zu tun, ausser vielleicht, dass der Bremsweg mit Tempo 50 länger ist als mit Tempo 30. Was also erhoffen sich die Bürgerlichen von ihren Initiativen? In ihrer Medienmitteilung von letzter Woche schreibt die FDP beispielsweise, «die Temporeduktionen auf städtischen Hauptachsen sind kontraproduktiv. Der private und öffentliche Verkehr stockt, ohne dass die Lärmbelastung spürbar abnimmt».

Im März 2019 hatten Regierungsrätin Carmen Walker Späh und Stadträtin Karin Rykart ihre jeweiligen für Verkehrsfragen zuständigen Ämter mit einer Untersuchung zur Wirksamkeit von Tempo 30 beauftragt. Die Resultate präsentierten sie Anfang Juli 2020. In ihrer gemeinsamen Medienmitteilung halten die beiden fest, «wenn Tempo 30 eingehalten wird, nimmt der Lärm wahrnehmbar ab». In den meisten Fällen reichten Signalisationen und Markierungen zudem aus, «um die Geschwindigkeit ausreichend zu senken». Ebenfalls interessant ist folgender Satz aus ihrer Mitteilung: «Das Ziel der Untersuchung war, die teilweise emotional und kontrovers geführte Diskussion um Geschwindigkeitsreduktionen aus Lärmschutzgründen zu versachlichen und neue Erkenntnisse zu gewinnen.»

So ändern sich die Zeiten: Früher gab es noch gemeinsame Untersuchungen, Zahlen und Fakten. Heute reicht  es offensichtlich, Medienmitteilungen wie jene der SVP zu verbreiten: Sie schreibt, in der Vergangenheit seien «unter dem Deckmantel des Lärmschutzes» etliche Hauptverkehrsachsen mit Tempo 30 signalisiert worden: «Das eigentliche Ziel der links-grünen Phantasten ist aber die Verteufelung des motorisierten Individualverkehrs.»

Lärm weg, Wohnung auch

Mit der Eröffnung der Zürcher Westumfahrung wurde im August 2010 aus der zuvor lärmigen und dreckigen Weststrasse eine ruhige Quartierstrasse mit Tempo 30. Die meisten Menschen, die dort jahrelang dem Lärm und Dreck getrotzt hatten, wohnen allerdings längst nicht mehr dort. Denn die Häuser wurden saniert oder gleich neu gebaut: «Tatsächlich liegen die Mietpreise an der Weststrasse heute im Mittel deutlich höher als im übrigen Quartier Alt-Wiedikon», schrieb die NZZ in der Ausgabe vom 31. Januar 2020, also rund zehn Jahre später. Und weiter: «Laut einer Erhebung der ZKB führte die Lärmberuhigung alleine gar nur zu durchschnittlich 6 Prozent höheren Mieten für Wohnungen, an denen nichts verändert wurde. Bei einer Sanierung hingegen hat eine Dreizimmerwohnung von 70 Quadratmetern den Mietpreis um 150 Prozent steigern können: von 1600 auf 2400 Franken.»

Damit stellt sich die Frage: Was passiert, wenn die Stadt Zürich auf einer Strasse, auf der gemäss ihrem Plan aus dem Jahr 2021 Tempo 30 eingeführt werden sollte, nun Tempo 50 beibehalten muss? Sinkt dann der Wert der Liegenschaften dort? Und sinken damit auch die Mieten? Und um wie viel? Darauf angesprochen, erklärt Donato Scognamiglio, Geschäftsführer des Immobiliendienstleistungsunternehmens IAZI und EVP-Kantonsrat, diese Frage lasse sich nicht «auf die Schnelle» beantworten: «Beim Fluglärm heisst es jeweils auch, die Liegenschaftspreise seien ja trotzdem gestiegen. Doch um wieviel die Preise ohne Fluglärm gestiegen wären, lässt sich nicht aus dem Bauch heraus beantworten.» Zudem könne man bestehende Mieten nicht anheben, nur weil ein Quartier wegen Tempo 30 ruhiger geworden sei. Erst wenn neue Mieter:innen einzögen, sei das möglich, fügt er an. Kurz: «Es bräuchte einen Blick in die Statistik und weitere Untersuchungen, um solche Fragen zu klären.»

Immerhin sind die Bürgerlichen insofern konsequent, als dass sie stets betonen, in Wohnquartieren hätten sie nichts gegen Tempo 30: Ist offensichtlich gut fürs Immobiliengeschäft. Doch gleichzeitig kämpfen die Bürgerlichen auch dafür, dass die Lärmgrenzwerte bei Neubauten künftig nur noch an einem Fenster eingehalten werden müssen. Wer sich Neubaupreise leisten kann, dürfte aber eher nicht an eine laute Strasse ziehen. Ob da die Rechnung noch aufgeht? Oder schlägt den Bürgerlichen ihr heroischer Kampf gegen die angebliche Verteufelung des Autoverkehrs dereinst gar übel aufs Portemonnaie? Man darf gespannt sein. Erst mal die Petition der SP zu unterschreiben, kann da nicht schaden. Man weiss ja nie…

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