«Wenn wir heute mit Repression reagieren, zeigt das, dass wir nichts gelernt haben»

Die Bäckeranlage in Zürich steht seit einem Monat im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Die Rede ist von Zuständen, die der offenen Drogenszene der 1990er-Jahre gleichen sollen. Doch ist die Situation wirklich derart angespannt? Und was muss passieren, damit das System nicht gänzlich zusammenbricht? Thilo Beck, Chefpsychiater der Arud, einer der führenden suchtmedizinischen Institutionen, ordnet ein.

Auf der Bäckeranlage in Zürich braut sich eine neue, offene Drogenszene zusammen. Thilo Beck, Chefpsychiater einer der führenden suchtmedizinischen Institutionen in der Schweiz, über den schwierigen Umgang mit Crack-Patient:innen, darüber, warum viele Angebote den heutigen Anforderungen nicht mehr gerecht werden und wie jene Menschen erreicht werden, die sonst durch alle Raster gefallen sind.

Noëmi Laux: Einen Monat ist es her seit unserem letzten Interview für Tsüri.ch. Damals bat ich um eine Einschätzung der aktuellen Situation auf der Bäckeranlage in Zürich. Das Thema wurde daraufhin von nahezu allen Medien aufgegriffen. Wie haben Sie die Berichterstattung wahrgenommen?

Thilo Beck: Das, was gerade auf der Bäckeranlage passiert, löst Unsicherheiten und Ängste bei den Anwohner:innen und im ganzen Quartier aus. Diese Ängste sind nachvollziehbar und müssen ernst genommen werden. Die Medien tragen einen grossen und wichtigen Teil dazu bei, wie die öffentliche Diskussion geführt wird. Dass diese Auseinandersetzungen zum Teil auch sehr polarisiert stattfinden, dient nicht immer der Sache, doch so funktioniert Politik. 

Inwiefern hängen diese Ängste mit Zürichs Drogenvergangenheit zusammen? Haben wir ein Trauma vom offenen Konsum auf dem Platzspitz in den 1990ern? 

Das denke ich nicht. Vielmehr glaube ich, dass das Problembewusstsein bei vielen verloren gegangen ist. Zunächst muss gesagt werden, dass die grosse Mehrheit der Konsument:innen aller Sub­stanzen den Konsum soweit im Griff hat. Andererseits gab und gibt es Menschen, die Suchtprobleme entwickeln. Weil wir damals Strukturen schaffen konnten, die diese Menschen aufgefangen haben, konnte der Konsum grösstenteils von der Öffentlichkeit abgeschirmt werden.

Jetzt, wo dieses System aus dem Gleichgewicht gerät und der Konsum wieder sichtbar wird, sind viele überrascht. Ich sehe darin aber auch Chancen.

Chancen?

Ja, weil es uns zwingt, grundsätzlich zu überdenken, wie wir mit Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen umgehen wollen und welche Angebote wie angepasst und ausgebaut werden müssen. Ausserdem führt uns die derzeitige Situation deutlich vor Augen, wie wichtig es ist, stabile Hilfs- und Unterstützungsstrukturen zu schaffen. Das geht schnell vergessen, vor allem, wenn das System so gut funktioniert wie in den letzten Jahren. Entscheidend ist aber, wie es jetzt weitergeht. Wir müssen verhindern, dass sich die Szene verselbstständigt und wir die Kontrolle verlieren. Wenn wir heute allein mit Repression reagieren, zeigt das, dass wir nichts gelernt haben aus der Vergangenheit. 

Wie explosiv eine solche Dynamik sein kann, hat man in Genf gesehen. Innerhalb eines Jahres hat sich die Zahl der Konsumierenden verdoppelt. 2022 verzeichnete der Drogenkonsumraum «Quai 9» gleich beim Genfer Bahnhof über 17 000 Besuche von Personen, die Crack rauchen wollten.

Die Situation in Genf ist aus dem Ruder gelaufen, als sich sogenannte Crack-Steine, also kleine, fixfertige Crack-Portionen, auf dem Schwarzmarkt etabliert haben. Das Problem mit den Crack-Steinen ist, dass sie mit einem Preis von zehn bis 15 Franken erschwinglich sind, die Wirkung jedoch nach etwa einer halben Stunde schon wieder nachlässt und die Abhängigen Nachschub brauchen.

So kommen die Konsumierenden in eine Spirale zwischen ständigem Konsum und Beschaffen. In Zürich beobachten wir eine solche Situation bis jetzt noch nicht, zum Glück. Einen derartigen Schwarzmarkt hat man nicht mehr unter Kontrolle, dann wird die Szene zum Selbstläufer. 

Die SVP fordert in einem Postulat, dass der Stadtrat sofort handeln müsse, etwa, indem die Bäckeranlage über Nacht abgesperrt werde. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Repression allein löst das Problem nicht, es verschärft es sogar. Wohin das führen kann, haben wir Ende der 1990er-Jahre erlebt. Die Heroinszene wurde vor und nach der Platzspitz-Schliessung durch die ganze Stadt getrieben. Erreicht wurde dadurch gar nichts, ausser, dass die Menschen immer mehr verelendet sind. Wenn wir heute allein mit Repression reagieren, zeigt das, dass wir nichts gelernt haben aus der Vergangenheit. Nur weil man Plätze sperrt oder Menschen vertreibt, verschwinden die Abhängigen nicht, sie verschieben sich nur.

Die damalige Drogenszene war geprägt vom Heroinkonsum, heute wird zunehmend Crack geraucht. Wie unterscheidet sich die Wirkung?

Crack ist die intensivste Art, Kokain zu konsumieren. Nach dem Crackkonsum stehen die Menschen unter Strom, werden aggressiv und der Suchtdruck ist enorm, sobald die Wirkung nach kurzer Zeit nachlässt. Das kennen wir vom Heroin nicht. Da hält die Wirkung viel länger, etwa vier, fünf Stunden. Anders als beim Crack ziehen sich Heroinkonsumierende eher zurück, werden ruhig und lethargisch. Viele Angebote, auch viele der bestehenden Kontakt- und Anlaufstellen (K&A), sind nicht vorbereitet auf Crack-Klient:innen. 

Was meinen Sie damit?

Die meisten Konsumräume sind zu klein. Crack-User brauchen mehr Platz, weil sie angespannt und angetrieben sind. Es kommt häufiger zu Auseinandersetzungen, insbesondere wenn die Konsumierenden zu dicht aufeinander sind. Ausserdem müsste das Angebot auf der offenen Szene und in den K&A so ausgebaut werden, dass diese schwerstbetroffenen Klient:innen vor Ort auch medizinisch und psychiatrisch behandelt werden können.

Dass diesen Menschen geholfen werden kann, setzt voraus, dass sie überhaupt eine K&A aufsuchen. Viele Konsumierende auf der Bäckeranlage hätten auch die Möglichkeit, in eine der anderen drei K&A in der Stadt zu gehen.

Jene Menschen zu erreichen, die es nicht aus eigenem Willen oder eigener Kraft schaffen, Hilfe aufzusuchen, ist momentan eine unserer grössten Herausforderungen. Viele der schwerstabhängigen Personen schaffen es nicht, ins Spital zu gehen oder sich Unterstützung zu holen, wenn sie ein Problem haben. Zudem kommen einige von auswärts und dürfen die städtischen K&A nicht nutzen. Diese Menschen fallen durch alle Raster und konsumieren deshalb öffentlich, etwa auf der Bäckeranlage. 

Wie könnten wir diese Menschen besser erreichen?

Indem wir das Angebot direkt zu ihnen bringen. Direkthilfe vor Ort, mit den Menschen sprechen und eine Vertrauensbasis schaffen. Also im Prinzip genau das, was die SIP (Sicherheit, Intervention, Prävention) heute schon macht. Diese Form der Unterstützung muss noch weiter ausgebaut werden.

Die Zürcher Drogenszene besteht aber nicht nur aus Schwerstabhängigen. Nur ein paar Hundert Meter weiter in der Langstrasse wird jedes Wochenende konsumiert. Das scheint aber weder die Behörden noch Anwohner:innen zu stören. Warum werden Konsumierende in der Bäckeranlage anders wahrgenommen als die «Partydrögeler»? 

Da haben wir schon einen Unterschied in der Manifestation des Konsums. In der Langstrasse konsumiert die Mehrheit in der Freizeit. Das sind Menschen, die trotz gelegentlichem Konsum einem geregelten Leben nachgehen. In der Bäckeranlage laufen wir gerade Gefahr, dass sich eine Gruppe bildet, die diesen Bezug verliert oder schon verloren hat. 

Seit diesem Herbst können Menschen in einem Pilotprojekt legal Cannabis konsumieren und auch die FDP setzt sich seit längerer Zeit für die Regulierung von härteren Drogen wie Kokain und Heroin ein. Gleichzeitig fehlt es den Schwerstabhängigen an Angeboten, man begegnet ihnen mit Repression. Setzt die Stadt einseitige Prioritäten? 

Welche Massnahmen die Stadt nun ergreifen wird, um der aktuellen Situation zu begegnen, wird sich erst noch zeigen. Es ist ja noch ein relativ neues Phänomen auf der Bäckeranlage und die Stadt ist mit Hochdruck dabei, Lösungen zu finden. Wie umgehen mit Freizeitkonsumierenden und wie mit schwerstabhängigen Personen sind zwei unterschiedliche Diskussionen, die man nur bedingt miteinander vergleichen kann. Für die Mehrheit der Konsumierenden ist eine Regulierung sinnvoll und wichtig. 

Nicht für alle? Sie sprechen sich seit jeher für eine allgemeine Legalisierung aus.

Die Regulierung ist sicher keine Lösung für die Menschen, die eine Suchtproblematik entwickeln. Es wird immer Menschen geben, deren Konsum ausser Kontrolle gerät, egal mit welcher Substanz. Es ist die Aufgabe unserer Solidargesellschaft, diese Menschen aufzufangen und ihnen die Unterstützung zu bieten, die sie brauchen.

Wie findet man das richtige Mittelmass zwischen Eigenverantwortung und Schutz vor sich selbst?

Wenn man von Regulierung spricht, geht es um Finetuning, was Werbeverbote, Preisgestaltung und Verfügbarkeit angeht. Und das muss bei jeder Substanz individuell angepasst sein. Wenn man zu wenig reguliert und der Konsum zu stark gepusht wird von industriellen Interessen, führt das dazu, dass mehr konsumiert wird und mehr Menschen ein Suchtproblem entwickeln. Verbietet man den Konsum gänzlich, verschliesst man die Augen vor der Realität und überlässt dem Schwarzmarkt und den Dealern die Initiative. Auch wenn es verboten ist, wird konsumiert. Das Ziel sollte sein, dass der Konsum grundsätzlich mit vernünftigen Regulierungsmassnahmen legalisiert wird und gleichzeitig den Menschen geholfen wird, die eine Sucht entwickeln.

Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen für die Drogenpolitik der nächsten zehn bis zwanzig Jahre in der Schweiz und in Zürich?

Mein Wunsch wäre, dass wir es als Gesellschaft schaffen, den Konsum von legalen und illegalen psychotropen Substanzen, egal welcher Art, sinnvoll zu integrieren und anzunehmen. Das Phänomen, dass Menschen Substanzen konsumieren wollen, lässt sich durch Verbote nicht verhindern. Wir müssen Wege finden, diesen Konsum so sicher wie möglich zu gestalten. Gleichzeitig braucht es Angebote, damit all jene, die durch den Raster fallen, aufgefangen werden und die Unterstützung bekommen, die sie brauchen. Das funktioniert aber erst, wenn wir aus den jetzigen Denkmustern ausbrechen und den Konsum als das nehmen, was er ist: Teil unserer Kultur. Der aussichtslose Kampf gegen Drogen blockiert uns und hilft weder den Konsumierenden noch der restlichen Gesellschaft, von den negativen wirtschaftlichen Auswirkungen ganz zu schweigen.

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