Wenn der Storch streikt

Weltweit sinkt die Geburtenrate. Auch in der Schweiz. 2022 fiel die Geburtenrate auf 1,4 Kinder pro Frau. Das ist der niedrigste Wert seit 2001. 2023 wird ebenfalls ein Tiefstand erwartet. Die Geburtenrate sinkt seit Jahren: 1964 gab es noch eine Rate von 2,66 Kindern pro Frau. 

Nun ist Bevölkerungspolitik fast immer von einem Katastrophendiskurs geprägt. Sei es nun, weil es zu viel Menschen gibt, die Überbevölkerung droht, wie es das berühmte Buch «Die Bevölkerungsbombe» von Paul Ehrlich in den 1960er-Jahren skizzierte. Oder eben genau das Gegenteil, wenn die Bevölkerung schrumpft. Thomas Etzemüller schreibt schon 2007 in seinem Buch «Ein ewigwährender Untergang», dass der Diskurs über Demographie seit hundert Jahren immer in apokalyptischen Tönen geführt wird: «Die Lage ist also dramatisch – und zwar schon lange! (…) Die sinkende Geburtenrate wird beklagt. Die Basis der Bevölkerungspyramide, die Zahl junger Menschen schrumpft.» Das ist nicht nur ein Thema, wenn es um die Altersvorsorge geht, sondern ein wiederkehrendes Motiv. Während man die Überbevölkerung in den einen Weltregionen beklagt, ist anderswo die schrumpfende Bevölkerung das Problem. In beiden Fällen droht der Untergang. Und so wird im gleichen Zug eine Zehn-Millionen-Schweiz und die Überalterung der Bevölkerung beklagt: Wir sterben gleichzeitig aus und platzen aus allen Nähten. Nun ist mir schon klar, es ist nicht ganz dieselbe Bevölkerung, die da wächst und die da schrumpft. Die Schweiz wächst nicht wegen der Geburten, sondern wegen der Zuwanderung. Und damit wäre das erstere Problem ja eigentlich gelöst.

Die sinkenden Geburtenraten sind aber dennoch rätselhaft. Wenn wir beispielswiese die Stadt Zürich betrachten: Bis 2015 nahm nämlich die Zahl der Geburten in der Stadt Zürich nach einer Baisse in den 1980er-Jahren stark zu. Dies hatte zum einen damit zu tun, dass mehr Frauen zwischen 15 und 49 Jahren in der Stadt wohnten, aber auch, dass diese Frauen tatsächlich mehr Kinder hatten. Zwischen 2015 und 2020 stagnierte die Geburtenzahl. 2021 wurden wieder mehr Kinder geboren, aber 2022 und 2023 brachen die Geburten stark ein, die Gründe dafür sind im Wesentlichen unbekannt. Statistik Stadt Zürich schliesst dabei verschiedene Hypothesen wie unsichere wirtschaftliche Lage oder unsichere Weltlage eigentlich aus, weil diese auch im Jahr 2021 hätten vorgebracht werden können.

Das heisst nicht, dass die unsichere Weltlage, der Mangel an bezahlbaren Familienwohnungen oder die sinkende Kaufkraft nicht gewisse Menschen davon abhalten, Kinder zu haben, wie dies auch das Familienbarometer 2024 von Pro Familia festgehalten hat. Nur, diese Gründe scheinen allein, wie dies Statistik Stadt Zürich festhält, nicht erklärend zu sein. Häufig wird auch gesagt, dass die mangelnde Familienpolitik und die schlechten Bedingungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie in der Schweiz Gründe für eine sinkende Geburtenrate sein könnten. Nur sinkt die Geburtenquote auch in den gleichstellungspolitischen Musterländern in Skandinavien. Die nordischen Länder haben grosszügige Elternurlaube, familienfreundliche Arbeitsbedingungen und auch ausgebaute familienergänzende Betreuung. Und dennoch sinkt auch da die Anzahl Geburten.

Wie man eine zu hohe Geburtenrate zum Sinken bringt, ist da wesentlich einfacher. Weltweit lässt sich beobachten, dass höhere Bildung der Frauen, besserer Zugang zu Gesundheitsversorgung und bessere soziale Sicherheit zu sinkenden Geburtenraten führen. Man muss dabei nicht einmal zu so drastischen Mitteln wie China bei der Ein-Kind-Politik greifen. Indien, das Paul Ehrlich zu seiner pessimistischen Überbevölkerungsthese inspiriert hat, hat wie praktisch alle anderen Ländern ebenfalls eine klare Senkung der Geburtenrate erlebt von 5,98 im Jahr 1964 auf 2,03 im Jahr 2020. Das Umgekehrte hingegen ist viel schwieriger und funktioniert praktisch nie, oder nur mit schlimmen Folgen. In Rumänen beispielsweise verfolgte der Diktator Nicolae Ceausescu eine pronatalistische Politik, in dem Verhütungsmittel, Abtreibung und Aufklärung verboten wurden. Die Folgen waren zwar mehr Geburten, aber auch mehr Frauen, die durch illegale Abtreibungen starben und Kinder, die verstossen wurden und in schlimmsten Verhältnissen in Kinderheimen aufwachsen mussten. Nach dem Fall der Diktatur sanken sodann auch gleich die Geburtenraten. Frankreich setzte bei seiner pronatalistischen Politik nicht auf Zwang, sondern auf Anreize, indem beispielsweise die Kinderzulagen mit wachsender Anzahl Kinder stieg. Tatsächlich war Frankreich lange eine der Ausnahmen in der Geburtenrate im Vergleich zu anderen Ländern. Doch auch in Frankreich ist die Rate auf den niedrigsten Stand seit dem Krieg gefallen. 

Die Geburtenrate sinkt überall: Im patriarchalen Südkorea wie im progressiven Finnland, im sozialstaatlichen Frankreich wie in den ultrakapitalistischen USA. Vielleicht ist es auch ganz einfach erklärbar, dass Menschen, wenn sie die Wahl haben, sich auch dafür entscheiden können, keine oder weniger Kinder zu haben. 

Der Journalist Ezra Klein und die Soziologin Caitlyn Collins geben einen weiteren möglichen Grund an: Es sind nicht nur die wirtschaftlichen Kosten des Kinderhabens, die Folgen für die Karriere, der Verdienstausfall, der die Frauen vom Kinderhaben abhält, sondern die emotionalen Opportunitätskosten. Verschiedene Studien zeigen, dass Frauen heute wesentlich mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen als früher und dies, obwohl sowohl ihre Beteiligung am Arbeitsmarkt gestiegen ist wie auch die Väter mehr Zeit mit den Kindern verbringen. Kinder werden heute mehr bekümmert als früher, was nicht schlechter, aber wesentlich aufwändiger ist. Da ein Tag nicht mehr Stunden hat und auch die Anforderungen im Beruf steigen, ist es kein Wunder, wenn Eltern immer erschöpfter werden. Wenn gleichzeitig in den Sozialen Medien sowohl die perfekte Elternschaft wie auch die Erschöpfung immer mehr zelebriert werden, so scheint es auch kein Wunder, wenn Elternschaft von Jungen als etwas Abschreckendes wahrgenommen wird. Natürlich ist es gut, wenn Tabus fallen, wenn über psychische Krankheiten offen gesprochen wird, wenn Ungerechtigkeiten wie die ungleiche Verteilung emotionaler Arbeit diskutiert werden. Aber vielleicht könnte man auch mal ehrlich sagen, dass Elternschaft auch etwas sehr Schönes sein kann. Und auch nicht ganz so schwierig, wenn die Bedingungen stimmen.  

Familienpolitische Massnahmen helfen also kaum, die Geburtenrate zu steigern. Aber sie helfen Familien. Und das allein sollte es eigentlich wert sein. 

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