Viva la mamma

Emanuele Crialese widmet der Unermesslichkeit von Mutterliebe eine hymnische Verehrung.

Die bis zuletzt im Film namenlos bleibende Mutter (Penélope Cruz) dreier Kinder ist als Spanierin selbst fremd im wohlhabenden Römer Milieu der 1970er-Jahre, worin «L’immensità» spielt. Ihr ältestes Kind fühlt sich der herrschenden Norm mit stark partriarchalem Einschlag gegenüber regelrecht ausserirdisch. Emotional sind Andrea, Adri oder Adriana (Luana Giuliani) und die Mutter ungeheuer eng miteinander verbunden. Als Tomboy nimmt ihn allein die Mutter ernst, die gleichwohl am einschnürenden Korsett einer nach aussen hin zu demonstrierenden Familienidylle zu ersticken droht. In lichten Momenten rennen sie, die Freiheit feiernd, gemeinsam Platz da! schreiend durch die Menschenmenge in Fussgängerzonen, in tristen Augenblicken bleibt allein das Verstummen. Wenn sich die Mutter ihre Augen schminkt, geht sie entweder aus oder kaschiert die Spuren ihrer Trauer. Sie ist oft geschminkt. Denn der Familienpatriarch alias Vater Felice (Vincenzo Amato) duldet kein Ausscheren. Der Clan ist gross, der Familienfeierlichkeiten sind viele, der Erwartungsdruck, bella figura abzugeben, kennt kaum Pausen.

Ennet eines Bambuswäldchens, wohin sich A. verbotenerweise immer wieder stiehlt, gleicht die Welt einer Verheissung. Arme Arbeiterfamilien aus dem Süden oder he­rablassend zusammengefasst «Zigeuner» leben ein auf A. weitaus freier wirkendes soziales Gefüge, und für Sara (Penelope Nieto Conti) entflammt augenblicklich eine bis dahin ungeahnte Begeisterung.

«L’immensità» behandelt den kurzen, körperlich noch knapp vorpubertären Zeitraum, in dem A. die sich entwickelnden äusseren Merkmale für Weiblichkeit noch kaschieren kann. Die Unterstützung der Mutter geht so weit, bis das Verdikt des Patriarchen, es sei jetzt Schluss mit dem Unsinn, sie selbst über ihre emotionale Belastungsgrenze führt. Doch auch dafür hat die Norm eine Handhabe. Schliesslich bestimmt der Mann. Dessen Mutter (Alvia Reale) besorgt derweil den Familienalltag, und spielerisches Tischdecken zu lauter Musik ist fortan genauso untersagt wie die Infragestellung oder gar ein Widerwort zu Tisch. Für A. beginnt eine Zeit der grossen Leere, die sich ungeahnterweise nochmals zu steigern in der Lage herausstellt, als die Mutter noch zerbrechlicher als jemals zuvor aus der Kur heimkehrt und das Neubaugebiet auch die Arbeiterfamilien von ihrer Insel der Sehnsüchte für A. vertrieben worden sind.

Formal ist «L’immensità» von einer grossen Zärtlichkeit, der sich im Kleinen inhaltlich eine ungeheure Brutalität entgegenstellt. Entlang des vorsichtigen Vortastens von A. erzählt, entwickelt sich daraus das Hohelied auf die Mutter.

«L’immensità» spielt in den Kinos Le Paris, RiffRaff.

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