Rücktritt und Rosinenpicken im Wilden Westen
Nach 21 Jahren verlässt AL-Gemeinderat Walter Angst den Rat. Sergio Scagliola hat nachgefragt, wie es bei ihm weitergeht.
Wieso sind Sie damals vor 21 Jahren in die parlamentarische Politik?
Walter Angst: Ich bin mit 17 vom beschaulichen Wädenswil nach Zürich gekommen und dank einem Schulfreund im Kommunistischen Jugendverband gelandet. Ich war zwei Jahrzehnte aktivistisch und in der PdA unterwegs und habe mich ab Mitte der 1990er-Jahre in der breiter aufgestellten AL engagiert. Weil am Ende doch alles im Parlament gefixt werden muss, war ein Gemeinderatsmandat für mich immer eine Option – parallel zu meiner aktivistischen Tätigkeit. In den langen Jahren im Parlament habe ich gelernt, das Amt nicht nur als Agitationsplattform, sondern auch für konkrete Veränderungen zu nutzen.
Und wie ziehen Sie Bilanz angesichts dieser 21 Jahren auf zweierlei Wegen?
Bilanzen interessieren mich nicht. Das ‹Hier und Jetzt› ist wichtig. Wir haben vor zwei Wochen mit der an den Bezug von Prämienverbilligungen gebundenen Energiekostenzulage ein sozialpolitisches Instrument geschaffen, das Modellcharakter hat. Zürich schwimmt im Geld, hat aber ein akutes Verteilungsproblem. Wer wenig Geld hat wird aus der Stadt verdrängt – nicht nur wegen den Mieten. Wir haben mit der Sozialhilfe und den Ergänzungsleistungen eine Basissicherung. Mit der Energiekostenzulage erreichen wir auch jene einkommensschwachen Haushalte, die nicht in die engen Raster von Fürsorge und Ergänzungsleistungen passen.
Auch die Tagesschule kann ein Integrationsmotor werden. Die Grundlagen haben wir gelegt – gegen den Widerstand des Stadtrats, der an seiner Schmalspurvariante festgehalten hat. Unter Dach ist die Transformation der Volksschule zum vielbemühten ‹Lebensraum Schule› noch lange nicht. Diesen Integrationsmotor wird es nur geben, wenn Lehr- und Betreuungspersonen, Schulsozialarbeiter:innen und Heilpädagog:innen zu einem interdisziplinären Team zusammenwachsen und auf Augenhöhe kooperieren. Dafür braucht es mehr personelle Ressourcen und bessere Arbeitsbedingungen für die schlecht gestellten Betreuungspersonen.
Keine positive Bilanz gibt es beim Wohnen. Wir haben ein politisches Problem. Das seit den 1990er-Jahren von der SP und den Grünen entworfene kommunalpolitische Modell der Stadt Zürich setzt auf hohe Erträge durch die Ansiedlung von zahlungskräftigen Haushalten und Firmen. Es gibt SP und Grünen die Möglichkeit, ihre politischen Projekte zu finanzieren. Nachhaltig ist dieses Modell nicht, weil es eine andere Form des Steuerwettbewerbs ist – und das Wohnen in der Stadt für alte Menschen und Familien unbezahlbar gemacht hat. Gegensteuer will die Exekutive nicht geben. Dass wir es immer noch nicht geschafft haben, eine wirkungsvolle Regulierung von Zweitwohnungen und Businessappartements umzusetzen, und noch keine brauchbare Umsetzung bei Auf- und Umzonungen für den Bau von preisgünstigen Wohnungen zu verlangen, spricht Bände. Der Stadtrat will die Immobilienwirtschaft nicht vertäuben. Man lebt ganz gut mit der Gentrifizierung.
Wieso denn genau jetzt der Rücktritt, wenn Wohnraumfragen doch gerade so dringlich sind?
Nach 21 Jahren ist die Zeit reif für eine Neuorientierung. Ich kann auch nicht verhehlen, dass ich immer etwas gefremdelt habe mit dem Parlament. Der Gemeinderat ist nicht meine soziale Welt. Und ich habe Glück. Es gibt bei der AL neue Leute, die viel Drive haben. Ich gehe mit zwei lachenden Augen. Mit Sophie Blaser übernimmt eine in Wiedikon verankerte und gewerkschaftlich engagierte Aktivistin meinen Platz. Der Rücktritt gibt mir die Möglichkeit, mich neu zu fokussieren. Ich muss mir nicht mehr jede Debatte antun.
Die AL schreibt in der Rücktrittsmitteilung von «Rosinenpickerei», als wäre dies etwas Positives…
Das ist es auch! Auch ich bin produktiver, wenn ich mich mit Sachen beschäftigen kann, die mir wichtig sind und mir Spass machen.
Der Rücktritt klingt nicht danach, als würde sich damit Ihr Arbeitspensum reduzieren.
Doch. Ich werde die Mittwochs-Musse geniessen. Anstrengend war vor allem die Vielfalt der Themen und die fehlende Zeit, diese vertieft zu bearbeiten. Das hat mich gestresst. Man muss sich parallel mit einem unbrauchbaren Bericht zur Ausgliederung des Triemlispitals, in dem kein Satz zu den Finanzen steht, mit den MNA (unbegleitete minderjährige Asylsuchende) und mit der Frage, wie die Klimawende sozialverträglich finanziert und umgesetzt werden kann auseinandersetzen – und auch noch klären, ob für die Schulkinder ein Passerellenprovisorium über die Thurgauerstrasse gebaut werden soll. Dieses Multitasking ist sehr anstrengend.
Dass ich nun vermehrt einen Fokus setzen kann, kommt mir gelegen. Ich habe mehr Zeit für die Zusammenarbeit mit engagierten Menschen. Beispielsweise in der Kampagne, die Kinderrechte bei der Begleitung und Integration von MNAs ins Zentrum zu stellen. Nachdem Mitarbeiter:innen vor einem Jahr in der Causa Lilienberg an die Öffentlichkeit gegangen sind, ist ein Stein ins Rollen gekommen. Dank einer breiten Vernetzung von Fachleuten mit solidarischen Menschen aus Politik und Gesellschaft ist man sich heute einig, dass das MNA-System umgebaut werden muss. Es wird aber viel Hartnäckigkeit und Druck von aussen brauchen, um die Verantwortlichen zum Handeln zu zwingen.
Und wo liegt nun der Fokus? Was steht zuoberst auf der Prioritätenliste?
Wohnungspolitik und Mieterverband. Es gibt diverse Projekte, die sich jetzt konkretisieren – institutionelle und aktivistische. Etwas erreichen werden wir nur, wenn wir vom Irrglauben abkommen, dass die Wohnungskrise behoben werden kann, wenn es 33 Prozent gemeinnützige Wohnungen gibt. Im Kanton Zürich sind 90 Prozent der Mietverhältnisse privat. In der Stadt Zürich rund 150 000. Diese Haushalte leben im Wilden Westen. Beim Einzug werden übersetzte Marktmieten verlangt. Dann kommt eine Referenzzinserhöhung und die Eigentümer erdreisten sich, Mietpreise durchzusetzen, die sie bei Neuvermietungen nicht realisieren können. Das muss aufhören, auch um den Neid auf die Glücklichen, die eine gemeinnützige Wohnung erhalten haben, in Grenzen zu halten.