«Viele Frauen wollen lieber einen Beruf ausüben, der ihr Herz erfüllt»

Am 14. Juni findet schweizweit der feministische Streik statt. Auch die Gewerkschaft Unia mobilisiert unter dem Motto «Mehr Lohn, mehr Respekt, mehr Zeit». Isabel Brun wollte von der Gewerkschafterin Violeta Ruoss wissen, inwiefern das biologische Geschlecht mit prekären Arbeitsbedingungen zusammenhängt und ob Frauen grundsätzlich die besseren Menschen sind.

Warum braucht es in einer demokratischen Schweiz Gewerkschaften wie die Unia?

Violeta Ruoss: Weil die Geschichte gezeigt hat, dass es in einem kapitalistisch geprägten Land Organisationen braucht, die sich für die Rechte von Arbeitnehmenden einsetzen. Ohne die Arbeit von Gewerkschaften würde es heute vielleicht noch immer Kinderarbeit geben, wären wir nicht versichert bei Arbeitslosigkeit oder hätten keine AHV und Pensionskasse.

Aber es wäre doch an unserer Politik, entsprechende Gesetze zu verabschieden?

Das Problem ist, dass sich unsere Gesetzgebung noch immer stark an der Wirtschaft orientiert. Es geht in erster Linie darum, dass unser rechtsdominiertes Parlament eher die Unternehmen und die Arbeitgebenden schützt – statt jene, welche die Arbeit leisten. Damit sich das nicht ändert, wird zudem in der Politik sehr viel Lobbying betrieben.

Aber es ist ja nicht so, dass es gar keine Gesetze gibt, die Arbeitnehmer:innen schützen würden?

Das schon, aber der Profit steht noch immer vor dem Wohl der Menschen. Trotzdem gibt es dauernd Lohndumping – mehr denn je. Trotz Gesetzen arbeiten viele Firmen mit Subunternehmen. Hotels lagern die Reinigung aus, anstatt sie selbst fest anzustellen. Bei jeder sechsten Lohnkontrolle stellen die Vollzugsorgane Lohndumping fest. 

Doch nicht alle Menschen leiden gleich stark darunter.

Das stimmt. Doch während ein Prozent der Gesellschaft von diesen Umständen profitiert und immer reicher wird, gehören immer prekärere Arbeitsbedingungen für sehr viele Arbeitnehmende zum Alltag. Betroffen davon sind vor allem Menschen, die in Niedriglohnbranchen wie der Gastronomie, der Reinigung und Pflege oder im Detailhandel arbeiten. Alleine in der Stadt Zürich verdienen 17 000 Personen weniger als 4000 Franken pro Monat, obwohl sie zu 100 Prozent arbeiten. Damit kann man in einer der teuersten Städte der Welt nicht leben. Zumal sich die Lebenshaltungskosten in den letzten 20 Jahren verdoppelt haben, die Löhne aber kaum gestiegen sind und die Teuerung im Moment vieles auffrisst. Die Unia macht sich deshalb für die Einführung eines Mindestlohns in Zürich und Winterthur stark.

Am 18. Juni wird sich zeigen, ob die Mehrheit der Stadtzürcher Stimmbevölkerung der gleichen Meinung ist. In den Medien zeigen sich nicht viele Gewerbetreibende begeistert von der Idee. Auch der FDP-Präsident Përparim Avdili sagte letzte Woche im Interview mit P.S., dass das Gewerbe genau wissen würde, was es seinen Mitarbeiter:innen zahlen könne und was nicht.

Das ist doch Blödsinn. Es ist erwiesen, dass die Schere zwischen Arm und Reich in den letzten Jahren immer weiter aufgegangen ist. Reiche Menschen werden immer reicher, Arme bleiben arm. Wenn ein Luxushotel in Zürich 700 Franken pro Übernachtung verlangt, während eine Reinigungskraft im selben Hotel nur acht Franken pro Zimmer für ihre Arbeit erhält, kann doch niemand kommen und sagen, dass hier mit fairen Mitteln gespielt wird. Es ist doch offensichtlich, dass die einen an der Ausbeutung der anderen profitieren.

Das sehen nicht alle so klar wie Sie.

Ich glaube, diese Menschen leben an der Realität vorbei – sie spüren zu wenig die Nöte der einfachen Bevölkerung und realisieren nicht, dass sich die meisten unter uns kein schönes Einfamilienhaus und keinen Sportwagen leisten können. Eine solche Haltung ist meiner Meinung nach respektlos. Immerhin putzt bei ihnen Zuhause jemand die Toilette, bügelt ihre Kleidung, frisiert ihre Haare. Es kann doch nicht so schwierig sein, zu verstehen, dass diese Arbeitskräfte auch fair bezahlt werden sollten. Wir brauchen sie schliesslich.

Neben der FDP sind auch Die Mitte, die GLP und die SVP gegen den Mindestlohn. Ist denn die Schweizerische Volkspartei gar nicht so volksnah, wie sie sich gibt?

Überhaupt nicht. Sie wirbt vielleicht damit, volksnah zu sein und holt mit populistischen Sprüchen Stimmen der Büezer, aber wenn es darauf ankommt, macht sie nur das, was ihr am meisten bringt – oder sich wirtschaftlich für sie lohnt.

Geld regiert also noch immer die Welt?

Geld und Männer.

Und das eher schlecht als recht. Finden Sie, dass Frauen die besseren Menschen sind?

Ich weiss nicht, ob man das so pauschal beantworten kann. Aber es ist schon auffällig, dass gerade im Norden Europas, der zu einem Grossteil von Frauen regiert wird, schon lange mehr sozialer Frieden herrscht und der Sozialstaat stärker ausgebaut ist. Sagen wir es mal so: Zu viel Macht ist noch immer in Männerhänden und das kann meiner Ansicht nach die soziale Entwicklung einer Gesellschaft ausbremsen.

Bleiben wir also lieber beim weiblichen Geschlecht. Gemäss der Lohnstrukturerhebung aus dem Jahr 2016 sind zwei Drittel der Stellen in Tieflohnbranchen von Frauen besetzt. Weshalb arbeiten so viele Frauen in schlecht bezahlten Berufen? 

Das hat verschiedene Gründe. Zum einen sind es in der Regel Berufe, die sich nicht mit Geld messen lassen. Nehmen wir das Beispiel der Gesundheitsbranche: Pflegekräfte scheinen auf den ersten Blick keine Wertschöpfung in Form von Geld zu generieren. Deshalb sind sie für die Volkswirtschaft automatisch weniger wert. Diese Schlussfolgerung ist natürlich völlig falsch; die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig diese Arbeitnehmer:innen für eine funktionierende Gesellschaft sind. Zum anderen bin ich der Überzeugung, dass viele Frauen lieber einen Beruf ausüben möchten, der ihnen gefällt und ihr Herz erfüllt. Umso tragischer ist es, dass es in unserem System anscheinend normal geworden ist, dass Menschen, die ihrer Berufung nachgehen, dafür bestraft werden, indem sie einen Lohn erhalten, der kaum zum Leben reicht.

Ist das auch der Grund, weshalb viele Frauen trotz schlechten Bedingungen die Branche nicht wechseln?

Zum Teil. In Gesprächen mit Gewerkschafterinnen wird oft gesagt, dass sie ihren Beruf sehr gerne ausüben und sie die Branche nicht wechseln wollen. Aber das ist sicher nicht der einzige Grund. 

Sondern?

Oft hat es auch damit zu tun, dass es Frauen mit Migrationshintergrund und Sprachbarrieren betrifft, deren Ausbildung hierzulande nicht anerkannt wird oder sie die Gesetzeslage in der Schweiz nicht gut kennen – und einfach froh sind, überhaupt eine Arbeit gefunden zu haben. Was übrigens auch nicht immer so einfach ist, da gerade junge Frauen wegen einer potenziellen Schwangerschaft schwieriger einen Job bekommen als ihre männlichen Kontrahenten. Angesichts des Fachkräftemangels sollten eigentlich auch die Unternehmen froh darüber sein, fähige Angestellte zu haben und sie dementsprechend behandeln.

Sprich: Mehr Lohn bezahlen?

Der Lohn ist ein wichtiger Aspekt, aber nicht der einzige, wenn wir über prekäre Arbeitsbedingungen sprechen. In der Baubranche gibt es zum Beispiel oft keine getrennten Umkleideräume für Frauen und im Tankstellenshop kann man erst die Toilette aufsuchen, wenn keine Kundschaft im Ladenlokal ist, weil man alleine arbeitet. Weiter zeigt eine aktuelle Studie, dass fast 97 Prozent der Pflegekräfte in der Schweiz sexuelle Übergriffe erleben.

Was sagen Sie zum Argument, dass sich Frauen stärker gegen solche Missstände wehren sollen?

Solche Aussagen machen mich wütend. Was soll das für ein Lösungsansatz sein: Wieso sollte sich jemand für etwas einsetzen müssen, das ihr zusteht?! Frauen sind nicht selbst schuld daran, dass das System gegen sie spielt. Frauen werden in ihrem Leben gleich mehrfach benachteiligt: Sie leisten Care-Arbeit im Wert von 248 Milliarden Franken pro Jahr, erziehen Kinder, pflegen Familienangehörige, machen den Haushalt für ihren berufstätigen Mann und können deshalb oft nur Teilzeit arbeiten. Was dazu führt, dass ihnen im Alter weniger Rente zusteht. Und das alles, obwohl die Gleichstellung in unserem Gesetz eigentlich verankert ist.

Sie wird also nicht umgesetzt?

Nein, das zeigen aktuelle Studien zu Care-Arbeit und Lohngleichheit.

Was denken Sie, ist der Grund dafür? 

Ganz klar das Patriarchat, das viele Jahrhunderte lang und auch heute immer noch davon profitiert, jene Menschen zu unterdrücken und auszunutzen, die bereits durch das System benachteiligt sind. Es gibt noch immer Männer, die allen Ernstes zu Frauen sagen: «Hole dir doch einfach einen reichen Mann.» Dass das nicht im Interesse der Gesprächspartnerin ist, wird dabei schlicht nicht in Betracht gezogen. Dabei wollen die meisten Frauen heute einfach nur finanziell unabhängig sein.

Eigentlich wollen die Frauen das ja schon seit vielen Jahrzehnten. Die Forderungen wiederholen sich ebenfalls.

Dass wir uns dafür noch immer rechtfertigen und unseren Standpunkt erklären müssen, ist sehr ermüdend, das stimmt. In solchen Momenten denke ich oft zurück an meine Mutter. Mein Vater arbeitete zwar schon 17 Jahre früher als Saisonnier in der Schweiz, aber damals war der Familiennachzug noch nicht erlaubt. Deshalb war meine Mutter bereits 53 Jahre alt, als sie mit mir in die Schweiz kam. Sie war Analphabetin und während ihre Brüder eine akademische Ausbildung absolvieren und eine Karriere verfolgen konnten, wurde sie als Kind nicht gefördert. Sie hat mich deshalb immer gepusht, weil sie wollte, dass ich später einmal auf eigenen Beinen stehen kann und unabhängig bin.

Und deshalb arbeiten Sie jetzt für eine Gewerkschaft?

Vielleicht. Ihre Sicht zur Gleichstellung hat mich jedenfalls sehr geprägt. Und diese möchte ich nun weitergeben – nicht nur meinen eigenen Kindern, sondern auch Frauen, die unter prekären Bedingungen arbeiten müssen. Es braucht starke Frauen, die für ihre Rechte einstehen und faire Löhne fordern. Ganz egal, woher man stammt, ob man Kinder hat oder nicht, alleine oder in einer Partnerschaft lebt. Wir wollen alle einen Lohn, der zum Leben reicht, denn anständige Arbeit soll anständig entlohnt werden. Dafür kämpfen wir am 14. Juni am Tag des feministischen Streiks.

Die Unia ruft unter dem Motto «Mehr Lohn, mehr Respekt, mehr Zeit» zum Streik auf. Was hat der Faktor Zeit mit Gleichstellung zu tun?

Zeit ist Geld! Nein, uns geht es vor allem um die freie Zeit, die den Frauen viel weniger zur Verfügung steht als Männern, weil sie unzählige Stunden an Care-Arbeit leisten. Frauen sind keine Sklavinnen des Patriarchats!

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