Unsichtbar

Aus empathischer Nachfühlbarkeit von Opferleid erwächst trotz aller Betroffenheit zuletzt eine subtile Bestärkung.

Es stand in der Zeitung. Ein «Ehrenmord» eines Vaters am Lehrer seiner Tochter, die diesem das Geheimnis des väterlichen Missbrauchs anvertraut hatte. Zahllose Blickwinkel und Hintergründe wurden ins Rampenlicht gezerrt, nur das Schicksal der Tochter blieb eine Blackbox. Opferschutz.

Brigitte Schmid-Gugler schrieb mit «Murgang» eine Annäherung an die Mehrfachbelastung der Tochter von Missbrauchsopfer, Vaterverräterin und Neuanfang in isolierter Anonymität. Sophie Stierle stellt für die gleichnamige szenische Installation einen riesigen transparenten Kubus mitten in den Raum. Das Publikum sitzt wie in einer Arena rundherum. Zu sehen ist nichts. Denn der Kubus ist mit Rauch gefüllt und die Lichtleisten in den Trägern hüllen das Ganze in satte Farben. Warmblau wie ein Aquarium. Gleissendweiss wie in der Rechtsmedizin.

Der Sound von Marc Jenny klopft in einer so langsamen Kadenz, dass es nicht Herzschlag sein kann, ein Countdown indes sehr wohl. Ab Band spricht Diana Dengler von Hoffnungen und Plänen, Hobbies und Freundschaften, wie sie beispielhaft für eine junge Frau stehen könnten. Plötzlich erscheint aus dem mit Rauch gefüllten, schummrigen Innern des Würfels das Gesicht von Nelly Bütikofer, die es wie zum Schrei in die dehnbare Seitenmembran drückt. Wie sie wieder verschwindet, verändert sich die Erzählung. Eine Kammer in Sicherheit, ein Stapel Papier zur Niederschrift des Innenlebens werden beschrieben, derweil die Stimme von der Selbstzuweisung von Schuld spricht, vom Schmerz der Verlockung, die Anonymität und soziale Isolation gegen all das ehemals sorglos Gewünschte und Erhoffte wieder austauschen zu können. Die Rede überschlägt sich, wird mit Hall versetzt und kaum mehr im Einzelnen verständlich. Die Vielstimmigkeit der einander zuwiderlaufenden Gedanken erwächst zum überfordernden Textteppich. Der Rauch lichtet sich nur langsam, während Nelly Bütikofer ihre Extremitäten unter Kontrolle zu bringen bemüht ist. Ihre Arme und Beine ziehen fliehend zeitgleich in einander entgegensetzte Richtungen, drohen auch den Körper zu zerreissen. Das sich Aufrichten wirkt mühselig, schmerzhaft und gelingt vorerst nur sehr wacklig.

Die Erzählung öffnet die Perspektive vom Einzelschicksal in Richtung Universalität und vermittelt in dieser fokussierten Konzentriertheit zweierlei zugleich: Eine Betroffenheit und eine Bestärkung, solche oder ähnliche Geschehnisse in der unmittelbaren Umgebung nicht wie hier allein gaffend hinzunehmen, sondern vielmehr beherzt Position zu ergreifen und einzuschreiten. Weil es uns was angeht. Bevor es dann in der Zeitung steht.

«Murgang», 19.4., Kulturmarkt, Zürich.

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