Überleben als Lebensform

Donald Trump ist gefährlich, demagogisch, ja faschistoid. Doch er ist auch typisch amerikanisch. Denn Populismus jeglicher Couleur gehört zu den USA wie der sprichwörtliche Apfelkuchen.

Populistische Bewegungen waren es, welche die Gründerväter der USA im 18. Jahrhundert zum bewaffneten Aufstand gegen die britische Oberherrschaft drängten. Und hundert Jahre später formierte sich in den USA die erste populistische Partei: Die People’s Party vertrat die Interessen der noch mehrheitlich agrarischen Bevölkerung gegen die grosskapitalistische und industrielle Elite. Ein vergleichbar scharfer Gegensatz zwischen moralisch überlegenem «Wir» und korrupten «Anderen» bestimmt in den USA bis heute die unterschiedlichsten politischen Gruppierungen. Populistisch in diesem Sinn sind sowohl die US-Arbeiterbewegung als auch der Ku-Klux-Klan, McCarthys Antikommunismuskampagne, die Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King, die Frauenbewegung, der Anti-Vietnam-Protest, die Tea-Party-Bewegung, Occupy Wallstreet, Black Lives Matter und natürlich die aktuelle trumpistische MAGA-Basis. 

USA im Dauerausnahme­zustand

Die USA bieten einen besonders reichhaltigen Nährboden für populistische Strömungen. Das habe ich Ende der 1990er-Jahre nach meinem Umzug in die Nähe von Boston nicht nur in Büchern gelesen, sondern – ebenso wie meine Kinder – auch im eigenen Alltagsumfeld gespürt. Die allgegenwärtige Aufteilung in Freund und Feind. Die ständige Aufgeregtheit. Die Atemlosigkeit. Das anstrengende Hangeln von einer grossen oder kleinen Krise zur nächsten. Die Sucht nach Neuem und die mangelnde Sorgfalt für das, was schon ist. Die kurzlebige Begeisterung. Die chronische Unzuverlässigkeit. 

Die Terrorattentate vom 11. September 2001 haben den für Populismus anfälligen Dauerausnahmezustand dieser Nation nicht verursacht, bloss verstärkt. «Extremsituationen bündeln die Aufmerksamkeit und lenken diese auf das unmittelbare Survival. Das entlastet vom Alltag, von der Routine, von Kontinuität, von Verantwortung für das Ganze.» So, als ewiger Kampf ums Überleben, habe ich den «American Way of Life» in meinem ersten 2003 erschienenen Buch beschrieben.

Nach einem Vierteljahrhundert Wohnsitz in den USA habe ich dieser Analyse wenig Prinzipielles hinzuzufügen. Ausser der Erfahrung: Ausnahmezustand und Populismus begünstigen sich gegenseitig. Denn je extremer die Situation, desto dringender der unmittelbare Handlungsbedarf. Langwierige demokratische Prozesse und komplexe Lösungen geraten in den Hintergrund. Entschlossene Führer sind gefragt. Und solche Führer haben ihrerseits jedes Interesse daran, die Welt in den schwärzesten Farben zu malen, um die eigene Position zu stärken. 

Erlösung und Rache

Das wohl anschaulichste Beispiel für diese unheilvolle Dynamik zwischen Survival Mode (Überlebensmodus) und (Rechts-)Populismus liefert derzeit die US-Grosspartei der Republikaner. Bis in die 1980er-Jahre politisierte die traditionsreiche GOP (Grand Old Party) verlässlich in den vorgegebenen demokratischen Strukturen. Mal trug sie die Regierungsverantwortung. Mal stellte die andere etwa gleichstarke demokratische Partei den Präsidenten. Linksintellektuelle wie Noam Chomsky bezeichneten Republikaner und Demokraten als «zwei Flügel der gleichen Partei». 

Dieses prekäre politische Gleichgewicht geriet ins Wanken, als die GOP regelmässig Wahlen verlor. In sieben der acht letzten Präsidentschaftswahlen ging das Popular Vote (die Mehrheit der Stimmen) an den demokratischen Kandidaten. Einzig George Bush konnte bei seiner Wiederwahl 2004, mitten im Irakkrieg, auf den direkten Zuspruch der Bevölkerung zählen. Donald Trump wurde 2016 aufgrund des US-spezifischen – eher elitären – Wahlkollegiums gewählt. Das wahlberechtigte Volk, auf das er sich heute so gerne beruft, stimmte, wenn auch knapp, gegen ihn. 

Für diese Abkehr von den konservativen Werten der republikanischen Partei gibt es verschiedene gut nachvollziehbare Gründe. Die US-Gesellschaft ist heute weniger hellhäutig, christlich, patriarchalisch und spiessig. Gleichzeitig hat die wirtschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit in den USA noch zugenommen. Im Gegensatz zur demokratischen Partei hat die GOP weder für die kulturelle Diversifizierung noch für die ökonomische Prekarisierung praktische Lösungsvorschläge vorgelegt. Sie reagierte auf den eigenen Machtverlust klar populistisch: Dies ist ein Ausnahmezustand. Wir, das «echte Amerika» sind bedroht und von nicht-weissen, unamerikanischen, feministischen, queeren, grünen, linken Feinden umzingelt. Der Machtgewinn der Gegenseite ist illegitim, ihr Wahlerfolg gestohlen.

2016 fand der schwelende Rechtspopulismus ein mächtiges Megaphon: Donald Trump, der seit seiner Abwahl 2020 immer unverschämter als Erlöser und Rächer des Weissen Mannes auftritt. Seine diesjährige Wahlkampagne ist bereits deutlich ins Faschistoide abgerutscht. «2016 war ich eure Stimme», sagte Präsidentschaftskandidat Trump letztes Jahr an der jährlichen Konferenz der US-Konservativen CPAC. «Heute füge ich hinzu: Ich bin euer Krieger. Ich bin eure Gerechtigkeit. Und für all diejenigen, die benachteiligt und betrogen worden sind: Ich bin eure Rache.»

Donald Trump vs. Bernie Sanders

Mein Schwager, ein linksliberaler Politologieprofessor aus Colorado, gehört zu denjenigen US-Amerikaner:innen, welche sich selber in der soliden demokratischen Mitte positionieren, indem sie dem Rechtspopulismus am andern Ende des Spektrums den Linkspopulismus hinzufügen. Sozialwissenschaftlich mag die Hufeisentheorie, wonach die politischen Extreme sich berühren, sich anziehen oder zumindest ähnlich sind, ausgedient haben. In den Medien und am Stammtisch ist die Links-Rechts-Symmetrie nach wie vor beliebt. Als sich 2020 für kurze Zeit sowohl Donald Trump wie Bernie Sanders um das Präsidentenamt bewarben, diskutierten mein Schwager und ich mit hochroten Köpfen. Er warnte gleichermassen vor dem Rechtspopulisten Trump wie dem Linkspopulisten Sanders und prophezeite bei deren Wahl den Untergang der US-Demokratie. Ich konnte nicht begreifen, was die beiden gemeinsam haben sollen. Donald, der Narzisst, der korrupte Geschäftsmann, der opportunistische, gewaltbereite Emporkömmling. Bernie, der eher bescheidene, beharrliche Kämpfer für eine sozialere Gesellschaft. Der eine marschiert durch die staatlichen Institutionen und will diese reformieren und stärken. Der andere unterwandert und zerschlägt Institutionen, die seine Machtgier bremsen. Der eine geht auf die Strasse für ein offeneres, demokratischeres, grüneres Amerika. Der andere kämpft an seinen MAGA-Veranstaltungen genau dagegen an und bezeichnet seine Basis als «Super-Elite». 

Es stimmt, auch Linke treten gerne hemdsärmelig auf und verwenden eine verständliche Sprache, um verständliche Forderungen – etwa Gesundheitsvorsorge für alle, existenzsichernde Löhne, mehr Rechte am Arbeitsplatz – zu stellen. Sie ziehen keine scharfe Grenze zwischen parlamentarischer und ausserparlamentarischer Politik. Und sie sind überzeugt, dass die eigene Vision einer einladenden, integrativen Gesellschaft moralisch besser ist als die Ausgrenzung, der Rassismus, Sexismus und die Fremdenfeindlichkeit der Gegenseite. Das sind alles populistische Züge. Doch reichen diese Merkmale aus, um Figuren wie Donald Trump und Bernie Sanders in den gleichen grossen Topf zu werfen? Wie aussagekräftig ist ein Begriff, der sowohl Repression wie Emanzipation, ja sogar Faschismus und Antifaschismus meinen kann?

Welche Elite? Welches Volk?

Intellektuelle wie der französische Ökonom Thomas Piketty, der zuweilen selber als Linkspopulist bezeichnet wird, möchte auf den «unterkomplexen» Begriff Populismus womöglich ganz verzichten. Ich halte mich an diesen Ratschlag. Denn das breitgefasste Konzept taugt immer weniger, um die politische Landschaft zu beschreiben.

Nicht zuletzt, weil sich diese Landschaft rasch verändert. Galten früher das Privatleben, der Beruf, die Konfession und die Parteizugehörigkeit als lebenslange Einrichtungen oder zumindest ideale, erfinden wir uns heute immer wieder neu. Nicht nur in den USA, die sich seit jeher ihrer unbegrenzten Möglichkeiten rühmt. Wir wechseln Beziehungen, Jobs, Vereine, Religionen und vor allem auch politische Loyalitäten. 

Zwar dominiert in den USA nach wie vor ein starres Zweiparteiensystem, das neuen Gruppierungen kaum eine Chance gibt. Doch auch diese Institution bröckelt. Denn die Stimmbürger:innen protestieren, indem sie auf ihrem Wahlzettel immer seltener D für demokratisch oder R für republikanisch ankreuzen. Die grösste politische «Partei» sind heute die Independents, die Unabhängigen oder Parteilosen, die gemäss Gallup-Umfrage knapp die Hälfte der US-Bevölkerung ausmachen. Vor zwanzig Jahren war es nicht einmal ein Drittel. Demgegenüber gibt es nurmehr je dürftige 17 Prozent registrierte Demokraten bzw. Republikaner. Am Radio höre ich dann beim Kochen immer wieder erstaunt, wie solche Independents 2008 für den demokratischen Afroamerikaner Barack Obama stimmten. Später zum republikanischen und rassistischen Donald Trump wechselten. Und sich diesmal beim besten Willen nicht entscheiden können.

Ich schnetzle mein Gemüse und denke mir dabei, dass in Zukunft ein Grossteil der Politik in den USA populistisch sein wird. Das birgt Gefahren (siehe Präsidentschaftskandidat Trump), aber auch die Chance neuer Perspektiven und Bürgerrechtsbewegungen. Das heisst, die Politik wird sich so oder so immer weniger in den traditionell vorgegeben Strukturen abspielen. Auch die herkömmliche linke oder rechte Definition von Elite und Volk wird der Erosion nicht standhalten. Politische Bündnisse entstehen vermehrt interessengebunden und sind temporär. Ideen und Bewegungen, die die Lebensbedingungen der Bürger:innen verbessern, verdienten dann die Bezeichnung «populistisch» als Kompliment.  

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