Unbequeme Freiheiten

Ich glaube nicht, dass früher alles besser war. Es war vielleicht besser versteckt. Schlummerte unter der Oberfläche und kam nicht zum Vorschein. Zum Beispiel war ich lange überzeugt, dass das Konzept der wehrhaften Demokratie in Deutschland funktionierte. Dass die deutsche Politik und Gesellschaft verinnerlicht hatte, dass eine Demokratie angreifbar ist und nicht selbstverständlich. Und dass es darum auch wichtig war, Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten. Heute ist die AfD in Deutschland gemäss Umfragen bei über 20 Prozent der Stimmen. Und die einstige Brandmauer bröckelt.  Ich kann mich auch erinnern, dass es früher in der deutschen FDP Menschen gab, deren Verständnis von Liberalismus auch den Schutz der Grundrechte beeinhaltete. So wehrte sich in den 1990er-Jahren die damalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gegen den sogenannten «Grossen Lauschangriff», der den Strafverfolgungsbehörden und den Nachrichtendiensten die Möglichkeit gab, Privatwohnungen akustisch zu überwachen. Nachdem sich die FDP dafür ausgesprochen hatte, trat Leutheusser-Schnarrenberger zurück. Der Lauschangriff wurde Realität – auch mit den Stimmen von SPD und Grünen. Nun könnte man die bekannte Leier anstimmen, dass es früher bei der FDP noch Liberale gab und heute nicht mehr. Aber so einfach ist es nicht. Denn dieselbe Leutheusser-Schnarrenberger macht auch heute wieder Schlagzeilen. In einem Interview mit dem TV-Sender WDR vertrat sie die Ansicht, dass das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nur Deutschen zustehe: «Wenn die Versammlung in NRW (Nordrhein-Westfalen) angemeldet wird, dann muss geprüft werden, wie die Staatsangehörigkeit ist, denn das ist eines der wenigen Grundrechte, das nur Deutschen zusteht.» Sprich: Demonstrieren dürfen nur noch Deutsche. Nun mag diese Aussage vor dem Hintergrund entstanden sein, dass es in Deutschland einige propalästinensische Demonstrationen gab, bei denen antisemitische Parolen skandiert wurden und die von Islamist:innen (ja, es gibt hier unerklärlicherweise auch Frauen) dominiert wurden. Das ist durchaus besorgniserregend. Aber kein Grund, Menschen grundsätzlich ein Grundrecht abzuerkennen. 

Bei einer SP-internen Anhörung zum Jugendstrafrecht sagte ein Strafverteidiger zu uns, dass er es eigentlich für eine Tragödie hält, dass die Liberalen liberale und freiheitliche Werte nicht mehr vertreten würden. Dass er aber dankbar sei, dass jetzt die Linke diese Werte verteidige. Tatsächlich ist es so, als ob die grundrechtsaffinen Vertreter:innen in der FDP auch in der Schweiz nicht mehr wahnsinnig zahlreich sind. Sicherheit wird im Zweifelsfall höher gewichtet als Freiheit, und den Zweifelsfall gibt es sowieso schon kaum mehr. Man könnte allerdings auch sagen, dass vielleicht schon in der Ideengeschichte des Liberalismus – wie der Publizist Raul Zelik in einem Interview mit P.S. dargelegt hat – das Eigentumsrecht immer schon als das zentralste Freiheitsrecht angesehen wurde und alle anderen als nebensächlich. Und die Demokratie, die über die Mitbestimmung der Besitzenden hinausging, von anderen Kräften wie Gewerkschaften oder Frauenbewegung erkämpft wurden. 

Ob wir als Linke oder als Sozialdemokrat:innen aber wirklich jene sind, die die Grundrechte ohne Einschränkungen vertreten, wage ich dennoch ein wenig zu bezweifeln. Dazu ein paar Beispiele, die zwar die SP nicht direkt betreffen, aber dennoch nicht ganz unrepräsentativ sind, für das Spektrum, dass die SP vertritt. Regierungsrat Mario Fehr hat in der NZZ dazu aufgerufen, dass die Stadt Zürich – wie die Stadt Bern – keine propalästinensischen Demonstrationen mehr zulassen soll: «Ich will keine deutschen Verhältnisse auf Schweizer Plätzen. Auch bei uns finden Anti-Israel-Demonstrationen statt, die zunehmend von Extremisten gekapert werden.» Nun ist Mario Fehr nicht mehr SP-Mitglied, aber er war es jahrzehntelang und er wurde auch von vielen SP-Wähler:innen gewählt. Und er ist gemäss Selbstbezeichnung ein Sozialliberaler. Ich sehe den zunehmenden Antisemitismus ebenfalls mit Besorgnis und die Gefahr, dass an diesen Demonstrationen antisemitische Parolen oder Transparente verwendet werden, als real an. Nur gibt es dafür ein Gesetz: Die Antirassismusstrafnorm, die notabene der jetzige Ständeratskandidat Gregor Rutz noch als Jungfreisinniger bekämpft hat, gibt den rechtlichen Rahmen vor und gibt die Möglichkeit, gezielt einzuschreiten. Das ist noch kein Grund, die Versammlungsfreiheit grundsätzlich einzuschränken. Noch absurder wird es, wenn man wie in Bern die Einschränkung damit begründet, dass viele Weihnachtsmärkte stattfinden oder «die Leute genug von Demonstrationen haben», wie es der Berner FDP-Regierungsrat Philippe Müller in einem Interview mit dem ‹Bund› darlegte. Nun ist für die Einschränkung in der Stadt Bern Polizeivorsteher Reto Nause (Mitte) zuständig. Nur hätte die rotgrüne Mehrheit in der Stadtberner Exekutive sich wohl durchaus gegen ihr Gspänli durchsetzen können, wenn sie dies gewollt hätte. Dass die Leute in der Weihnachtszeit lieber ungestört einen Glühwein trinken wollen, kann ich durchaus nachvollziehen. Dass Demonstrationen nerven ebenso. Aber unter den sehr guten Gründen, die es für eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit geben müsse, wie Staatsrechtler:innen betonen, gehören diese wohl kaum.

Das Hauptproblem sehe ich insbesondere in der Tendenz, eine Einschränkung der Meinungsfreiheit hinzunehmen, wenn es gegen die eigene Meinung geht. Ich habe auch wenig Sympathien für Abtreibungsgegner:innen oder Corona-Massnahmenskeptiker:innen. Doch dennoch haben sie ein Recht, ihre Meinung öffentlich kundzutun. Auch in einer Demonstration. Es steht auch jedem oder jeder zu, eine Gegendemonstration zu organisieren. Aber verbieten sollte man diese Kundgebungen auch nicht und es ist auch undemokratisch, jemanden daran zu hindern, eine Kundgebung abzuhalten. Und selbst wenn das Gerede von der Cancel culture oft übertrieben ist, gibt es hier durchaus zum Teil illiberale Tendenzen, die man auch kritisieren sollte.        

Die These, die Grünen hätten die Wahlen verloren, weil die Leute keine Lust hatten, daran erinnert zu werden, dass die Klimakrise zum einen ernst und zum zweiten noch ungelöst sein halte ich nicht ganz für unplausibel. Und diese spielt wohl auch eine Rolle bei den Demoverboten. Dass einem der Nahostkonflikt wütend, traurig oder hilflos macht, kann ich verstehen. Dass man lieber einen Glühwein trinken und die Sorgen der Welt verdrängen will, ebenso. Nur lösen wir Probleme nicht, wenn uns nicht ab und jemand daran erinnert, dass wir Probleme haben. Und das Aushalten von dummen Meinungen scheint mir doch ein recht kleiner Preis für die Freiheit und eine demokratische Gesellschaft. Mit einem Glühwein geht das erst noch besser.  

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.