Tun, als ob

Nach den Wahlen durfte ich an einer Befragung im Rahmen des Nationalfondsprojekts «Direkte Demokratie Schweiz im 21. Jahrhundert» (DDS21) teilnehmen. Es untersucht die Meinungsbildung in politischen Fragen: «Wie wirkt politische Werbung auf die einzelnen Stimmbürgerinnen? Welche Botschaften werden Ihnen wo zugespielt und wie bewerten Sie diese?» Der Online-Fragebogen machte mir richtig Spass: Ich konnte mich selbst meiner Belesenheit rühmen und ungehemmt meiner Ideologie frönen.

Etwas irritierte mich jedoch. Sind die Autor:innen etwa selber politischer Propaganda auf den Leim gekrochen, als sie die  Frage formulierten, welche der «wichtigen Themen» aus den Wahldebatten für mich persönlich relevant seien? Zuoberst auf der Liste der zu bewertenden Themen: die Migration. Das ist reichlich suggestiv. Nicht jedes (siegreiche) Wahlkampfvehikel ist auch ein objektiv wichtiges Thema. Ich habe jedenfalls noch nie eine Wohnung, einen Job, ein Spitalbett oder einen Sitzplatz an eine:n Asylbewerber:in verloren … dafür aber jeden Monat viel Geld an bürgerliches Gewinnstreben, das sich an meinen Grundbedürfnissen schamlos bereichert.

Als der Kanton Aargau kürzlich einen luschen Immobiliendeal einging und infolgedessen Windischer Mieter:innen eines Abbruchobjekts auf die Strasse stellte, um das Haus für die geplante Zwischennutzung als Asylheim leerzukriegen (‹WoZ› 33/23), wollten gewisse Medien uns das gerne als Beleg dafür auftischen, dass die Zuwanderung Schuld an der Wohnungsnot sei, so à la: «Mieter raus, Flüchtlinge rein» (‹Weltwoche› 22.2.23) – und nicht die Profitgier der Immobilienbesitzer im Verbund mit bürgerlicher Klientelpolitik. Kein vergleichbarer Aufschrei erschallt, wenn im Zürcher Heuried 39 Wohnungen an Immobilienhaie vom Typ «Abriss und Neubau» verschachert werden, wenn in Wollishofen der Eigentümer (ein Credit-Suisse-Fonds) gleich 108 tipptoppe Wohnungen plattmachen will, oder wenn die ETH errechnet, dass die Haushalte in Neubauten monatlich im Schnitt 3623 Franken mehr verdienen als zuvor jene in den abgerissenen Häusern (‹mieten & wohnen› 5/23). Das ist gut ein halber Schweizer Medianlohn mehr! So verdrängen die Reichen die Armen – und nicht die Zugewanderten die Einheimischen.

Dafür trumpfte die auflagenstärkste Zeitung im Land mit einem «exklusiven Test» zu den unterschiedlichen Lebenskosten in der Schweiz auf (‹20minuten› 30.10.). Es zeigte sich: 1. Menschen mit Durchschnittslohn leiden überall eher unter der Wohnungsmiete als unter den Steuern. 2. In der Pampa lässt sich billig leben, wenn man nicht in vernünftiger Distanz einen Arbeitsplatz braucht. 3. Nur die Reichsten können sich die schönsten Wohnorte (mit den tiefsten Steuern) leisten. Das Blatt zog jedoch keine solchen Schlüsse aus den präsentierten Daten. Sondern platzierte direkt anschliessend einen Artikel zur Frage, ob und wie Leute wie du und ich «als Immobilienvermieter auch per Crowdfunding von Renditen profitieren» könnten. Natürlich ebenfalls ohne den Zusammenhang zwischen Immobilienspekulation und überhöhten Mieten herzustellen.

Denn die hiesige bürgerliche Wählerschaft möchte einfach glauben, dass den Tüchtigen das Glück lacht. Und wenn ihre gutschweizerischen Tugenden ihr auch weder Eigenheim noch Millionenerbe oder Börsengewinn beschert haben, so kann sie sich doch sehr gut in solche Zustände einfühlen und so tun, als ob.

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