Traumfänger

Die kleinsträumige der drei aktuellen Ausstellungen im Kunst Museum Winterthur eröffnet den grössten Horizont.

Grosszügige Schenkungen ans Musée d’Art et d’Histoire in Genf und das Kunst Museum Winterthur ermöglichten die gemeinsam realisierte Ausstellung «Walls of the World» von Burhan Doğançay (1929-2013). Zentraler Bestandteil seines Werkes sind gemalte Reproduktionen von Zeugnissen menschlichen Ausdruckswillens auf Wänden im öffentlichen Raum, was von Graffiti über Plakatierungen politischer Forderungen bis zu symbolhaften Handabdrücken oder blossen Kritzeleien reicht. Die Zeitlosigkeit respektive gleichbleibende Aktualität der Arbeiten dieses Flaneurs sticht bereits via die zentrale Serie «Walls of Israel» mit über fünfzig Werken ungeheuer trefflich ins Auge. Die Zeugnisse einer Friedenssehnsucht, einer Zukunftshoffnung und einer ursächlich humanistischen Manifestation der grundsätzlichen Wertigkeit jedes Lebens sammelte er 1975, zwei Jahre nach Beendigung des Jom-Kippur-Krieges in Jerusalem und Tel Aviv. Obschon die Witterung und allfällige Reinlichkeitsbemühungen Teile der übereinander geschichteten Plakate, Danksagungen und Stossgebete bereits in Mitleidenschaft gezogen hatten, als der Künstler sie via sein Skizzenheft mit ins Atelier nahm, um ihnen mit mehrheitlich satt leuchtenden Farben ein weiteres Leben einzuhauchen, das transportierbar war und so die frohe Kunde um die Welt reisen lassen konnte, steigern gerade der Detailreichtum und die Vielfältigkeit dieser zahllosen Zeugnisse menschlichen Mitteilungswillens in ihrer Kraft die Wirkung ins Unbändige. Das Bewusstsein über den historischen Augenblick der Hängungen überwältigt einen mit der Zeitgleichheit von Zuversicht und Demut. Weil das Heute wie von selbst mit in die Betrachtung einfliesst, ergänzen Kopfschütteln und Hoffen die vermeintlich simplen Symbole für Frieden, Leben und Liebe zur Verlockung, die erlebte Emotion in einem erneuten Stossgebet zu kanalisieren, womit wie von selbst eine metaphysische Parallele zum  damaligen Bedürfnis nach Ausdruck von Personen aus dem gemeinen Volk, also eine symbolische Verbindung unter Menschen entsteht. Burhan Doğançay hat aber auch profanere Träume, wie sie auf Kacheln von U-Bahnen angebracht worden sind, eingefangen und diese – wie in der Abbildung – dem ebenso verbreiteten Begehren nach Ordnung und Sauberkeit gegenübergestellt, was die Gedanken zu Zusammenhängen wie der Vergänglichkeit respektive deren Gegenteil eines stets neu aufkommenden Aufbegehrens weitet.

 «Walls of the World», bis 2.6., Kunst Museum Winterthur / beim Stadthaus. Katalog.

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