Toleranz, ranz, ranz

Das Sommerloch hat uns ein Loblied der Toleranz beschert. Wie schön! Selten genug kommt es vor, dass in jener Heimat geistiger Enge und ordnungspolitischer Kleinkrämerei namens bürgerlich-rechtspopulistischer Boulevard-Journalismus Toleranz gepredigt wird. Bettina Weber von der ‹SonntagsZeitung› fand aber in einer europaweiten Studie der Uni Dresden zum Thema Polarisierung und gesellschaftliche Spaltungstendenzen Beweise dafür, dass hierzulande die politische Rechte besonders löblich tolerant sei. Lassen wirs gutsein, dass die Studie sich gar nicht auf die Schweiz erstreckte und auch Webers Interpretation bald darauf als Fantasterei abseits jeglicher Fakten entlarvt wurde (s. ‹Blick› / WoZ). Hier ist doch mal eine prächtige Zeitungsente, auf deren Rücken ich noch einen Rundflug drehen will, bevor wir sie endgültig in die Pfanne hauen.

Wie erstrebenswert ist eigentlich Toleranz? Als Mathematiklehrerin oder als Kassier würde ich sagen: überhaupt nicht. Die meisten Rechnungen, die die Durchschnitsschülerin so kennt, ergeben genau ein tolerierbares Resultat: nämlich das richtige. Gleiches gilt für den Kassenstand bei Feierabend. Zwei mal zwei gibt nunmal vier, und knapp daneben ist trotzdem falsch.

Wozu also Toleranz? Sie ist eine Haltung, die ursprünglich die Duldung religiöser Minderheiten ausdrückte; später wurde damit Duldung – bis hin zur Akzeptanz oder gar Gleichberechtigung – jeglicher andersdenkender Minderheiten oder nicht mehrheitsfähiger Ansichten – umschrieben. Somit «schützt die Toleranz ein bestehendes System, da fremde Auffassungen zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht zwangsläufig übernommen werden, [sie] schützt aber auch die Träger einer Minderheitsmeinung vor Repression und gilt insofern als eine Grundbedingung für Humanität» (Wikipedia). Da wirkt es nicht gerade stringent, eine ethisch, religiös oder politisch inspirierte Toleranz ausgerechnet in der rechtskonservativen Ecke beheimaten zu wollen – denn diese «traditionsbewussten» und besitzstandwahrenden Kreise positionieren sich ausdrücklich gegen Abweichungen von ihrem Weltbild und schotten sich gegen alles Andersartige und Fremde ab.

Muss man nun allen Denkrichtungen ausnahmslos Toleranz entgegenbringen, auch wenn diese selber Intoleranz predigen? Soll man Rechtspopulismus tolerieren, wenn man weiss, dass er vor Kurzem bis zum Holocaust geführt hat? Schon Marcuse kritisierte «mit dem Begriff der repressiven Toleranz, dass in einer Gesellschaft mit unklarem Wertepluralismus, in der Toleranz als Norm gilt, rationale und berechtigte Kritik wirkungslos bleiben kann». Es kommt also vielmehr darauf an, welche Werte es aus ethischer Sicht verdienen, die Leitkultur zu definieren, und was daneben auch noch toleriert werden soll – nicht zuletzt, weil es vielleicht sogar eine höhere Ethik vertritt. 

Der Rechtspopulismus, wie er so auf den geistigen Schwingen der ‹SonntagsZeitung› dahertrudelt – will aber Figgi und Müli: Er hat einen absoluten, quasi mathematischen Wahrheitsanspruch, der sich als gesellschaftliche Norm aufspielt und – in Tat und Wahrheit – sehr wenig Andersdenken toleriert. Gleichzeitig begibt er sich in die Minderheitenrolle und fordert rundum Toleranz ein. Aus dieser übersimplen Rechnung herausgefallen ist: die Ethik. 

Nun aber fertig Trübsinn: Einmal canard à l‘orange bitte!

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