Symbolschwere Federleichtigkeit

Ein Bericht vom Winterthurer Tanzfestival in drei Stücken.

Energisch

Die letztlich glückende Befreiung von «RE» hinterlässt auch eine tiefe Melancholie.

Vor drei Jahren kam der Knall: Die ganze Welt bleibt zuhause. Nach dem Durchatmen, weil sämtliche Verpflichtungen und Termine wegfielen und die gewonnene Freizeit vorübergehend befreiend wirkte, folgte die emotionale Umkehr in Existenzbedrohung, psychische Strapaze und führte manche nahe an die feine Trennlinie zum Wahn. Nadien Gerspacher und Arias Fernández führen in «RE» hochgradig energiegeladen und virtuos bildstark in dieses Erinnern zurück und holen damit auch die zuerst als individuell gelesenen Knörze wieder ans Licht. Ihre Kleinstwohnung von wenigen Quadratmetern durchbrechen sie vergleichsweise rasch, aber diese vermeintlich gewonnene Freiheit offenbart nur eine zwar weiter gefasst erfahrbare, aber eigentlich sehr viel einschränkende engmaschige Begrenzung, die ein Ohnmachtsgefühl bislang unbekannten Ausmasses heraufbeschwört. «RE» ist genauso eine Paarbeobachtung wie eine darin erkenntlich gemachte individuelle Überforderung und natürlich ein Statement bezüglich der länderspezifisch verschiedenen Bereitschaft, Künstler:innen und ihre Bedürftigkeit als solche anzuerkennen und ihr gegenzusteuern. Das Duett kippt nie in eine vollkommene Selbstaufgabe, wohingegen die gegenseitige Gewaltbereitschaft und sei es eine heftiger ausfallende Neckerei, sehr deutlich als Begleiterscheinung hervortritt. Die Verwendung von durch Licht tanzendem Staub lässt Erinnerungen an das Einkalken von Toten in zurückliegenden Kriegen aufkommen, was wiederum die sich lautlos und hinterrücks wie immer in den Vordergrund schiebende Melancholie auch ein wenig mit dem Stossseufzer vermengt, letztlich doch einigermassen unbeschadet davongekommen zu sein. Es ist auch ein Aufschrei einer gleichermassen wütenden Anklage wie einer letztmöglichen Erschöpfungsfreude, die allein körperlich noch in der Lage ist, einen Ausdruck zu finden. Die Begeisterung für die Perfomance mag indes nicht in Frohgemut allein münden.

«RE», 18.11., Tanzfestival, Winterthur.

 

Komplett

Elsa Couvreur übersetzt Kafkas bedrohliche Irrläufe ins Zeitalter der Digitalisierung.

Nummer 3654782 wurde einbestellt, um das bereits als erfolgreich eingestufte bürokratische Erstverfahren mit einer physischen Unterbeweisstellung der noch nicht abgefragten Eigenschaften und Begabungen zu komplettieren. Herausgeputzt zum Bewerbungsgespräch, also anständig adrett, steht Elsa Couvreur in einem spartanischen Raum. Ein Stuhl, ein Telefontisch, that’s it. Die digitale, abgehackt formulierende Stimme ermahnt sie zur Geduld und spielt Beethovens «Ode an die Freude» in Dauerschlaufe. Warten also. Erst steht sie brav da, beginnt sich aber die immer länger werdende Zeit mit Kleinstregungen zu verkürzen, bis die Stimme sie darauf hinweist, dass der Raum aus Qualitätsgründen überwacht würde. Ertappt, errötet sie kurzerhand, was von dieser Überwachungssoftware offenbar als Signal gedeutet wird, im Prozess fortzufahren. Erst werden ihr grenzwertige Zugeständnisse abgerungen, wobei allein Ja als Antwort überhaupt zur Disposition steht. Und wie wenn dieses Bekenntnis zur vollständigen Selbstaufgabe nicht schon demütigend genug wäre, wechselt die Stimme von der Frage zur Aufforderung. Von vorn, im Profil, von hinten, etc, ergäbe ja grundlegend noch irgend einen Sinn, zumindest, da überhaupt nicht festgelegt ist, um welcherart Auswahlverfahren es sich hier überhaupt handelt. Aber als die Aufforderung in eine absurd lange Anweisung von zu vollbringenden Kunststücken und Symbolbewegungsabläufen mündet, die sie souverän wie gewünscht abspult und die Stimme sie bestimmt und unausweichlich dazu auffordert, sich kurzerhand auch noch real splitternackt zu präsentieren, ist jeder Ansatz von Belustigung weggewischt. Die Marionette Mensch, die sich digital genauso wie auf einer Karriereleiter alles bieten, wegnehmen und sich manipulieren lassen muss, um überhaupt als existierend zu gelten, steht hier in einer überaus agilen Version als Spiegel da und weckt Widerstandsgeister.

«The Sensemaker», 19.11., Tanzfestival, Winterthur.

 

(Alb-)Traum

Philippe Saire entwickelt eine abstrakte Adaption von Pinocchios Rummelerfahrung.

Die Fantasie vom Fliegen, dem Menschheitstraum per se, wird auf dem Jahrmarkt weniger von den waghalsigen Bahnen bedient, als vielmehr von den im Wind tanzenden prallen Ballonrispen, die gen Himmel drängen. Eine solche Ballung von Einladungen den Spieltrieb neu zu entdecken und auszuleben, hängt in «Salle de Fête» über den Köpfen der beiden Tänzer Neal Maxwell und David Zagari. Sie erscheinen befremdlich anonymisiert mit haarlosen, den gesamten Kopf verdeckenden Gesichtsmasken, was dem Bühnengeschehen eine Unverortbarkeit zwischen Verbotenes tun und einer unheimlichen Verborgenheit verleiht. Die Aluballone sind Figürchen aus der US-amerikanisch dirigierten Konsumwelt von Halloween bis Disney. Entsprechend dazu changiert die Bewegung der Tänzer zwischen innig freundschaftlicher Annäherung und bedrohlicher Bereitschaft zum tätlichen Angriff. Im Spiel manifestieren sich Grundregungen, die nach erfülltem Erstspass bald einmal in die Ränge niederer Instinkte kippen wie der Gier, der Missgunst, dem Neid. Nicht etwa gradlinig, sondern kombiniert mit taktischen Täuschungsmanövern wird aus dem getanzten Inhalt ein Tanz um Vorherrschaft, Deutungsmacht, ja ein Kräftemessen. Einwände der Vernunft, die Ballone würden für beide ausreichen, haben hier schon keine Chance mehr, zu greifen. Der Abend erinnert an die süsse Verführung zur reinen Freude des Rummels in Pinocchio, währenddem sich die einst reinen Seelen in langohrige Nutztiere verwandeln, die künftig einer Ausbeutung zugeführt werden können. Inwiefern sich die Bühnenfiguren aus eigener Einsicht zu einem Innehalten bewegen lassen, oder ob sie vom Auskosten der Spassmaschinerie einfach an ihre körperliche Ermüdung gelangt sind, lässt sich nicht zweifelsfrei unterscheiden. Fest steht, ihre Warnung kennt eine vielschichtigere Lesbarkeit als die alleinige eines Kinderspiels. Indirekt ist es ein elementar besinnliches Stück.

«Salle de Fête», 17.11., Tanzfestival, Winterthur.

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