«Stop acting like a zombie»

Von eitelster Selbstdarstellung mit manipulativer Erzählweise über Mainstream-Unterhaltung mit ärgerlich dünnem Inhalt bis zu sich hinter Kunst und Andeutungen versteckender homosexueller Thematik aus dem arabischen Raum reicht das Programm des 19. schwullesbischen Filmfestivals PinkApple, das im Dokumentarteil aber auch spätes Glück im Rentenalter zeigt, mit Fundstücken Vorurteile früher Jahre entkräftet und Inseln als gelebte Utopien von Genderfreiheit besucht. Der Festivalrückblick.

 

Der Mann steht auf dem Hausdach in einer nicht genannten irakischen Stadt und schreit sich in einer minutenlangen Wuttirade die Seele aus dem Leib: «Scheinheilige Arschlöcher!» Die Kamera kommt näher, bis sein Gesicht erkennbar wird. Man kann das Ausmass der Verbitterung nur erahnen, wenn ein Iraker soweit geht, sich offen gegen den gesellschaftlichen Umgang mit Homosexualität zu stellen. Vermutlich ist es der Filmemacher Osama Rasheed selber, der in «The Society» seine Ohnmacht rausschreit. Spielfilmsequenzen zärtlicher Intimität zweier Männer stehen einer Off-Erzählung gegenüber, die klagt, dass arabische Männer sehr wohl die Genüsse zwischenmännlicher Sexualität auslebten, wenn sie von der körperlichen Ebene in ihrer Ehe enttäuscht seien. Aber wehe, jemand würde das benennen, die Homosexualität sichtbar auf die Strasse tragen, und sei es bloss durch eine leicht effeminierte Körpersprache. Sofort wäre er ein nicht mehr ernst zu nehmender Teil der Gesellschaft. Abschaum, dessen körperliche Unversehrtheit preisgegeben wird und das mit allgemeiner Billigung. Wenn vor dem Abspann die Widmung «meinem geliebten Sohn» folgt, schiessen einem unweigerlich die Tränen in die Augen. Die Schizophrenie der Situation für einen schwulen Mann im Irak ist kolossal. Entzweit zwischen der Sehnsucht selbstbestimmten Liebens und dem Zwang zur Konvention, und seis zum Preis einer Scheinehe. Wobei das Drama für die darin involvierte Frau noch nicht einmal thematisiert ist und die innere Zerrissenheit des offensichtlich Vater gewordenen Schwulen zum filmöffentlichen Bekenntnis seiner Liebe zum eigenen Kind drängt.

Tausende von Kilometern weiter östlich, in China, begleitet Sophia Luvarà die lesbische Cherry und den schwulen Andy auf der Suche nach einem andersgeschlechtlichen homosexuellen Gegenüber für eine Scheinehe. Während Cherry offensiv vorgeht und sich dagegen entscheidet und sich damit gegen ein Kind und gegen den weit über einen Wunsch hinausgehenden Druck der Eltern und der weiteren Gesellschaft stellt, ohne dass der Film die Konsequenzen zeigte, gibt Andy reumütig zu Protokoll: «Ich bin nicht stark genug.» Obwohl die Mutter von Cherry einen gesellschaftlichen Wandel zum Besseren sieht, ist «Inside the Chinese Closet» in mehrerer Hinsicht recht verstörend. In Fragen des Geschlechts der Nachkommen ist man ihr gemäss offener geworden. Ab dem Zeitpunkt, als ihre Eltern vernahmen, dass sie eine Tochter geboren hatte,  wurden sie nie wieder gesehen, der Kontakt bracht komplett ab. Heute seien Mädchen kein vergleichbares Problem mehr. Hört man der Handykonversation von Andy mit seinem Vater zu, in der auch der Satz fällt, «stop acting like a zombie», ist hingegen der Druck, überhaupt Nachkommen vorzeigen zu können, noch immer eine Frage in der Rangordnung von Gedeih und Verderb. Wie sonst könnte die folgende Suche nach einer passenden Frau und Mutter, später dann einer Leihmutter in Thailand oder den Niederlanden, einen dermassen an eine Handelsware Mensch, einen Besitz erinnern? Die klandestinen Treffen mit Lesben in einer vergleichbaren Situation zum Zwecke der Überprüfung gegenseitiger Sympathie und vergleichbarer Vorstellungen einer Zukunft, sind nachvollziehbar. Wenn sich der Fokus zusehends auf ‹ich› und ‹Kind› und ‹haben› versteift und einem der Begriff ‹ums verrecken› so gar nicht mehr aus dem Kopf will, ist eine gefühlte Übelkeit nicht mehr sehr weit. Die sich noch potenziert, wenn Bedürfnisse oder Gefühlslagen allfällig involvierter Frauen noch nicht einmal mehr in Erwägung gezogen werden und nur noch der Preis, die Wählbarkeit des Kindergeschlechts und die Reibungslosigkeit des Ablaufs zählen. Wohlbemerkt, als Ausdruck eines gesellschaftlichen Zwangs, der hanebüchene Befreiungsakte als valable Lösungsansätze erscheinen lässt.

 

Sein und Schein

Eine weitaus erfreulichere Entdeckung machte der amerikanische Filmemacher Stu Maddox zufälligerweise auf einem Dachboden. Er fand privates Filmmaterial aus den 1930er-Jahren, das im Privaten ein durchaus fröhliches und offenherziges Ausleben von Homosexualität zeigt. Davon angestachelt, unternahm er weitere Recherchen in öffentlichen Archiven, etwa der «Library of Congress» in Washington D.C., und stellte mit seinen Fundstücken den Film «Reel in the Closet» zusammen. Diese zeigen, dass es Jahrzehnte vor Stonewall – der Geburtsstunde der modernen Homosexuellenrechtsbewegung – AktivistInnen für Gleichberechtigung gab. Der Aussage von Professorin Susan Stryker, «die Filmdokumente entsprechen nicht der bisherigen Vorstellung eines Lebens im Versteckten, sondern zeigen, dass ein glückliches, erfülltes Leben als HomosexuelleR möglich war», stellt der Film entsprechende Trouvaillen hintan.  Die Schätze, die diese erste Erkenntnis in wissenschaftlichen Studien weiter untermauern könnten, liegen aber  hauptsächlich noch entweder versteckt auf irgendwelchen Speichern oder dann ist das Filmmaterial durchaus in einem öffentlichen Archiv, aber die Mittel und/oder der spezifische Ansatz für eine Aufarbeitung fehlen. Dabei, das attestieren Stu Maddox verschiedene HistorikerInnen, ist Geschichte auf Film sehr viel einprägsamer nachzuvollziehen, als in akribisch zu Papier gebrachter Geschichtsschreibung. Und die im Film versammelten Zeugnisse machen dies für jedes Publikum augenscheinlich. Wenn Bewegung, im Idealfall sogar noch mit Originalton, eine Situation wiedergeben, wird zum Beispiel aus dem vermuteten elektrisierenden Charisma eines Harvey Milk ein nachvollziehbares Zeugnis davon, dessen einnehmende Kraft auch Jahrzehnte später noch spürbar ist. Das Schweizerische Schwulenarchiv und das diese Sammlung beheimatende Schweizerische Sozialarchiv sind dieser Erkenntnis folgend denn auch schon länger fieberhaft auf der Suche nach privatem Filmmaterial, das die hiesige Homosexuellengeschichte mit audiovisuellen Zeugnissen weiterschreiben möchte.

Eine gleichwohl vernachlässigte Grösse in der Bevölkerung Thailands thematisiert Ruth Gumnit in «Visible Silence»: Die lesbische Frau. Während transidente Personen, schwule Paare, um nicht sogar bis zum regelrechten Sextourismus auszuholen, in der thailändischen Öffentlichkeit sichtbar sind, bleiben lesbische Frauen unsichtbar. «In der Gesellschaft hat es keinen Platz für uns», berichtet eine von der mehrfachen Diskriminierung als Frau und als Lesbe erzählende, die auch unter dem gängigen Credo ‹don’t ask, don’t tell› letztlich leidet. Denn als Nicht-TouristIn, die hinter das thailändische Dauerlächeln blicken kann und auch die Folgen im allgemeinen Umgang zu spüren bekommt, kann das Erwischtwerden bei gleichgeschlechtlichem, zärtlichem Kontakt – was keinesfalls mit öffentlich zur Schau gestellter Sexualität gleichzusetzen ist – der Verlust der Existenzgrundlage bedeuten. Wobei der Entzug eines Auftrages keinesfalls offiziell damit begründet werden muss. Die Anfeindungen in der Nachbarschaft, à la «was für ein Vorbild gebt ihr unseren unschuldigen Kindern», sind hingegen sehr viel direkter, ebenso die alltäglich spürbaren Zeugnisse einer abgrundtiefen Verachtung. Schon das Frausein wird im buddhistischen und an Wiedergeburt glaubenden Thailand als Strafe für Sünden in vorhergehenden Leben angesehen, die Sünden, die eine lesbische Frau in dieser Vorstellung hätte begehen müssen, übersteigen die Vorstellungskraft vieler. Verblüffend an diesem Film ist die Nachricht, dass, je höher eine Frau in der gesellschaftlichen Stellung steht, Stichwort ‹upper class›, desto schwieriger sich der Umgang damit gebiert, und das obschon seit 1986 eine Lesbengruppe für einen Zuwachs an Akzeptanz besorgt ist. Dass einen «Visible Silence» trotzdem nicht deprimiert zurücklässt, liegt an der Stärke und dem Willen der portraitierten Frauen, die Rückschläge stoisch hinzunehmen scheinen – und weiterkämpfend lächeln.

Orte und Personen finden, die Mut machen, ist nachgerade das Konzept von «Genderwonderland», den Michelle Biolley in den letzten Jahren während ihrer Ferienreisen gedreht hat. Physische Freiräume, wie das besetzte «Tuntenhaus» in Berlin oder die ländliche Liegenschaft «Folle-Terre» irgendwo in Frankreich entziehen sich bewusst den Regeln der Aussenwelt. Selbst wenn dies im Falle Berlins mehrfach mit absurdem Polizeieinsatz zu verhindern versucht wurde und es in einem solchen Räumungsfall sogar Tote gab. Die verschiedenen Interviews, auch mit einem Diversity-Officer der neuseeländischen Polizei oder dem/der in Zürich und auch in früheren Filmen am PinkApple aufgetretenen und daher hinlänglich bekannten ‹Romeo›, sind wie die weiteren Gespräche über Selbstdefinition in Fragen von Gender, der Träume und Wünsche an eine zweigeschlechtlich ausgerichteten Gesellschaft und Ideen für eine genderegalitäre Lebensweise allesamt spürbar durchdrungen von einer positiven, hoffungsfrohen Grundstimmung. Mit dem thailändischen Arzt Dr. Preecha, der ursprünglich in Zürich beim Pionier Rudolf Meyer gelernt hatte und heute als Koryphäe im geschlechtsangleichenden Operieren gilt und weltweit Ärzteteams darin berät, führte Michelle Biolley ausführliche Gespräche. Die augenscheinlichste Auskunft, dass solche Operationen kein Sonntagspaziergang sind und viel Übung von den ausführenden OperateurInnen fordern, fängt die Filmerin im Gespräch auch den State of the Art ein: Beispielsweise den Gliedaufbau bei Female-To-Male-Transgender hält er für überholt, weil Risiken und Erwartungen selbst mit dem geglücktesten Resultat in kein befriedigendes Verhältnis zueinander zu bringen sind. Das ist insofern konsequent, dass, wenn die Abwendung von einem rein dualen Verständnis von Gender ernst genommen wird, die operativ möglichst naturgetreue Nachahmung nur ein weiteres Korsett von Uniformität darstellt, also das getreue Gegenteil dessen ist, was eine Gendervielfalt meint. Doch weder der Arzt noch die Filmemacherin geben Ratschläge. An erster Stelle steht das Individuum und ebenso breit wie demgemäss Gender als Begriff betrachtet werden sollte, sind die individuellen Bedürfnisse, Wünsche und Träume.

 

Zeitenwenden

Catherine Corsini blättert in der Zeit zurück in die frühen 1970er-Jahre in Paris, als die Feministinnen noch mit konzertierten öffentlichen Attacken auf männliche Gesässe mit einem kleinen Klaps in aller Öffentlichkeit für mittelprächtige Skandale sorgten. Die bäuerisch sozialisierte Delphine reist in die grosse Stadt, wo sie an der Uni bald Carole, eine der Wortführerinnen der Aktivistinnen kennenlernt und für sich einnimmt. «La Belle Saison» thematisiert in einem dichten, in sich stimmigen Film bereits in den anscheinend unbeschwerten ersten Wochen in Paris, das Unverständnis für lesbische Liebe der noch so gesellschaftsrevolutionärsten Männer wiegleich die Usanz, Homosexualität in der Psychiatrie mit Elektroschocks, harten Drogen und zur Not auch mit dem Skalpell beikommen zu wollen. Im weiteren Teil, als Delphine wegen eines Schlaganfalles ihres Vaters zurück auf den elterlichen Hof geht und ihr Carole folgt, folgt der Stadt-Land-Graben noch dazu. Solange die nächtlichen Eskapaden im Dorf nicht bekannt und vor Delphines Mutter auch nicht thematisiert werden, scheint Ruhe und eitle Minne zu herrschen. Erst als die ungeduldige Carole Druck aufzubauen beginnt und von Delphine eine Entscheidung fordert, eskaliert die Situation vollends. Nicht ohne in einem Jahre später spielenden Schluss versöhnlich zu werden. Delphine fand einen Weg, ihr gewolltes Leben zu führen, einfach nicht so und nicht so schnell, wie es Carole gerne gehabt hätte.

Das Gegenteil von schnell thematisiert der etwas hemdsärmlig realisierte, inhaltlich aber doch sehr bedenkenswerte Film «Over the Rainbow» von Tara Fallaux. Die überaus sportliche Leny reist nach dem Tod ihrer Mutter mit dem Fahrrad um die Welt und begegnet in Neuseeland am Strand der Liebe ihres Lebens: einer Frau aus Hawaii. Lesbe mit 68 Jahren. Das Zusammenleben hat sich aus der heutigen Perspektive mit 82 deswegen nicht realisieren lassen, weil die Visa für die USA immer nur drei Monate galten und sich dieser Summer of Love zwar mehrfach wiederholen, sich letztlich aber doch nicht in eine feste Partnerschaft übersetzen liess – dafür waren die zwei doch zu verschieden. Als Zeugnis des Bonmots, dass Liebe (jeder Couleur) kein Alter kennt, ein Schmankerl von einem Beispiel aus der gelebten Realität.

Ebenfalls von der Realität inspiriert, wenngleich von der diametral entgegengesetzten Seite, ist das Plädoyer «Seven Angry Indian Goddesses» von Pan Nalin. Die Einladung an die fünf besten Freundinnen in das Ferienhaus auf Goa durch die Modefotografin Frieda mündet zuallererst in ein freudiges Wiedersehen. Die Frauen sind laut, fröhlich, ausgelassen – in Feierlaune eben. Die Ankündigung, Frieda werde eine der anwesenden Frauen ehelichen, ist das primäre PinkApple-Bindungsglied. Aber der Film ist weit mehr. Sämtliche der Frauen, ob Kämpferin für die Landlosen, toughe Businessfrau, Erfolgsschauspielerin oder Popstar mit Publikationsdruck, geben nach und nach kund, dass ihr vermeintlich erfolgsverwöhntes Leben eben doch hauptsächlich ein Kampf ist. Ein Kampf gegen die männerdominierten Vorstellungen dessen, was eine Frau darzustellen habe: Eine Augenweide. Aber Pan Nalin geht noch weiter und bleibt selbst bei stets zunehmender Dramatik im Grundton und der Handlung wiewohl der finalen Hoffnung bei einer nachgerade trotzigen Fröhlichkeit. In der Gruppe bei Tag konnten sie die sexuell-gewalttätigen Übergriffe einer Männergruppe noch erfolgreich abwehren, aber spät nachts alleine wird eine unter ihnen Opfer einer Mehrfachvergewaltigung mit Todesfolge. Die Rolle der Polizei ist den Frauen gegenüber vorwurfsvoll (was tragen sie auch solch kurze Hosen etc.) und erst als sie die Täter ausfindig machen, sich ihrer Schuld vergewissern und sich für diesen kaltblütigen Foltertod rächen, haben die Vertreter des Rechts plötzlich Interesse an so Nebensächlichkeiten wie Spuren, Indizien und Zeugenaussagen. Das bare Gegenteil dessen, was sie in den vorherigen Ermittlungen regelrecht höhnisch zu unternehmen verweigerten. Das Finale ist kitschig, unterstreicht aber die Notwendigkeit eines Umdenkens der patriarchalen indischen Gesellschaft mit der Stellung und Wertschätzung der Frau. Bezüglich des Lesbischseins ihrer Gastgeberin waren die geladenen Frauen sehr viel brüskierter von der sich als irrig herausstellenden Vorstellung, sie würde sich mit einer Hausangestellten verbinden wollen, als von der Tatsache, dass der Bräutigam eine Braut sein wird.

 

Wunschwendungen

In eine ähnliche Kerbe, einer vom Ideal einer Besserung beseelten Handlung geprägten Erzählweise, ist «Viva» von Paddy Breathnach, dem diesjährigen Eröffnungsfilm von PinkApple. Jesús ist Friseur in Kuba und leidenschaftlicher Travestiekünstler aka Dragqueen. In den Klub von ‹Mama› aber kommen nur die besten und die Warteschlange für ein Casting ist lang. Wegen guter Dienste an deren Perücken wird Jesús ein einmaliger Auftritt gewährt. Steifer und weniger lasziv kann ein solcher Auftritt kaum daherkommen, dafür war der Schlag ins Gesicht danach umso realer. Vom eigenen Vater, der die letzten fünfzehn Jahre wegen Totschlags im Gefängnis verbrachte. Selbstverständlich nistet er sich wieder in der alten Wohnung ein und verbietet Jesús jeden weiteren Auftritt. Woher das Geld für den gemeinsamen Unterhalt stammt, interessiert den cholerischen Säufer nicht. Für Jesús aber bleibt als Alternative einzig die Prostitution – bei lokalen Freiern, noch gewinnbringender aber bei Touristen. «Viva» ist klar auf Feelgood-Movie getrimmt und die finale Einsicht des Vaters ist einzig dem Umstand geschuldet, dass er dem eigenen Tod in die Augen schaut.

Übertroffen wird dieser Gesinnungswandel des Vaters nur noch von jenem des Apfelbauern im US-amerikanischen Bible-Belt, der das gesamte Vermögen inklusive Studienvermögen des Sohnes für die evangelikale Enthomosexualisierung von James ausgegeben hat. «Fair Haven» heisst die Familienranch, auf die James zurückkehrt. Seine Läuterung ist Behauptung, und der Vater, ein trauernder Witwer, ist in jeder Hinsicht stur. Jede Veränderung – Wechsel auf Bioanbau etwa – ist ihm ein Graus. Dafür freut er sich, als James mit der gläubigen Suzy auszugehen beginnt und sieht in ihm bereits die nächste Generation des traditionellen Bauerngutes. Dass James ein begnadeter Pianist ist, blendet er komplett aus. Ebenso die Vorgeschichte einer jugendlichen Liebschaft mit Charlie – zu dem ihn der Vater als eine der ersten Lieferadressen für die heimischen Äpfel schickt. Der Erstkontakt ist frostig, aber als Charlie halb tot geprügelt wird, weil James sich nicht dezidiert gegen den von Suzy geäusserten Verdacht, Charlie könnte schwul sein, zur Wehr setzt, beschliesst James, Charlie künftig beizustehen. Wo wieder Platz für freundschaftlichen Beistand ist, wartet das Aufflammen des früheren amourösen Gefühls nicht mehr lange. Das Einlenken des väterlichen Verständnisses indes kommt überraschend.

 

Sexualität

Die Inszenierung von sinnlicher Körperlichkeit im Film ist offenbar eine veritable Knacknuss, wobei es glücken kann und zum besten aller Spielfilme dieses Jahrgangs führen kann. Während «Jess & James» von Santiago Giralt von einem unverbindlichen Sexdate dieser beiden Jungs ausgehend ein Roadmovie entwickelt, das ein sorgenfreies Freiheitsgefühl ohne Wiederkehr sucht und mit einem Dritten im Bunde vor lauter Inszenierung fleischlicher Gelüste die Handlung regelrecht vergisst, glückt diese Balance Julio Hernández Cordón mit «Te prometeo anarquía» deutlich besser.  Miguel und Johnny sind Skater aus zwei verschiedenen Welten in Mexiko-City, die in Johnnys Behausung, einer Art Tanklastanhänger, ihren Freiraum gefunden haben, während im Herrenhaus von Miguel ein Ausleben der gegenseitigen Zuneigung tabu ist. Zusammen sind sie die informelle Schnittstelle zwischen Blutspendenden für Geld und einer ominösen Organisation. Das Elend in Mexiko ist im Mindesten ebenso Hauptdarsteller wie das ungleiche Paar. Kleine Fluchten ermöglicht einzig das Leimschnüffeln, und die Not ist offensichtlich so gross, dass einer ihrer Freunde bis zur bedrohlichen Blutarmut in viel zu geringen Abständen spenden geht und regelmässig irgendwo in Ohnmacht fällt. Als die beiden ein verführerisches Angebot der örtlichen Mafia erhalten, ein zigfaches ihrer üblichen Provision zu verdienen, schlagen sie jeden Zweifel in den Wind und besorgen die fünfzig Spendenwilligen über Nacht und werden sich erst gewahr, was sie hier getan haben, als alle verschollen sind und sie von ihren Müttern in Sicherheit gebracht werden. Das reiche Söhnchen Miguel kommt in die USA, wo er seine Sehnsucht nach Johnny nur im Leimrausch erträgt.

Der einsame Überflieger dieses Jahr heisst «Théo et Hugo dans le même bâteau» von Olivier Ducastel und Jacques Martineau («Drôle de Félix») und er beginnt mit einer heftigen, zwanzigminütigen Sexszene in einem Darkroom. Fern jeder Pornoästhetik, aber sichtlich in Kenntnis der realen Entsprechung dieser Örtlichkeiten inszenieren die beiden Filmemacher eine Verschmelzung, die trotz der Umgebung bereits eine magisch flirrende Aura von mehr als rein mechanischer Triebabfuhr verströmt. Théo war vom Betreten des Etablissements regelrecht elektrisiert von Hugo, was ihn – irrsinnigerweise – den Verstand ausschalten lässt und er die Safer-Sex-Regeln übergeht. Draussen auf der Strasse, beide sind vom Gegenüber hin und weg und haben vor, die mit Sex begonnene Liaison im privateren Rahmen weiterzuführen, thematisiert Théo seine Tat. Hugo ist ausser sich und ruft sofort die Notfallaufnahme an und lässt sich erklären, was zu tun sei. Als er ins Telefon sagt, einer der beiden sei ganz sicher HIV-positiv, ist dem Publikum noch völlig unklar, wie, was, warum und woher Hugo das überhaupt weiss. In einer nächtlichen Odyssee zur Notfallaufnahme im nächstgelegenen Spital breiten die beiden Filmemacher die ganze Ambivalenz glaubwürdig und nachvollziehbar aus. Der Schockmoment sitzt tief und beide Männer schwanken zwischen Wegstossen und Umarmen des anderen und Hugo erzählt, wie er bei seinem ersten Sexualkontakt als auf dem Land aufgewachsener Jüngling auf irgend einer Raststätte bei völlig enttäuschend verlaufenem Sex mit HIV angesteckt worden war und dass er heute in Therapie sei und keine nachweisbare Virenlast mehr habe. Er steht Théo in dieser verunsichernden Stunde bei und gesteht ihm seine Liebe auf den ersten Blick. Dabei ist der Film klug genug, die Themen Schuld, leichtgläubige Unvernunft und sogar den Ursprung dieser überraschenden Liebesbekundung in einer grossen Ambivalenz zu verhandeln, dass der zwar erkennbare Mahnfinger aufgrund einer authentisch breiten Palette an Reaktionen und Verunsicherungen nicht als Standpauke wahrgenommen wird. Als sich die beiden in den frühen Morgenstunden eine poetisch-romantische, in der Euphorie aber auch leicht verklärte gemeinsame Zukunft auf rosa Wölkchen ausmalen, kontern die Filmemacher den Übertritt zum grossen Kitsch mit der  Ungewissheit, ob es Hugo um die Person Théo oder eben doch bloss sein beeindruckendes Gemächt geht. Eine Frage, die einem Realitätsbezug nicht komplett abhold ist. In sich ein herausragender Film, dessen verstörendste Szene zuletzt nicht mehr der explizit schweisstreibende Sex darstellt, sondern die potenziell existenzielle Veränderung, die diese paar Minuten Dummheit auslösen können. Alles steht plötzlich zur Disposition, alles.

 

Motivationen

Bei etlichen der Unterhaltungsfilme dieses Jahres stellt sich zuletzt die Frage nach der Motivation der Hauptfiguren. Etwa beim älteren Armando in Caracas, der sich Strassenjungs als lebende Onanierphantasie ins Haus holt. Bei Elder trifft er in Lorenza Vigas’ «Los amantes de Caracas» auf ein äusserst gewalttätiges Exemplar, bleibt ihm aber auch noch auf den Versen, als ihn dieser spitalreif geprügelt und ausgeraubt hat. Die weitere Wendung, in der die Gewaltbereitschaft Elders wie auch die Zahlungsbereitschaft Armandos zentrale Rollen spielen, ist recht eigentlich unklar, ob die sexuell konnotierte Komponente nur vorgeschoben war, um einen Handlanger für einen anderen Rachefeldzug zu finden.

Belustigender ist der Krimi «All about E» von Louise Wadley, die einen schrillen Krimi mit dem stereotypen Schwulen Matt und der lesbischen arabischstämmigen Australierin Elmira, kurz E, gedreht hat. Sie ist eine angesagte DJ, die aber vom Clubbesitzer in einer Art Geiselhaft der Exklusivität ihrer Auftritte gehalten wird. Als den beiden zufällig ein Haufen Geld in die Hände gerät, hauen sie relativ ziellos ab – wohl wissend, dass sie sich damit den Inhaber Richie auf den Hals hetzen. Auf ihrer Flucht ins Outback versöhnt sich Elmira mit ihren Eltern, ihrem ursprünglichen Berufswunsch der klassischen Musikerin und zuletzt auch mit ihrer Ex. Nur die Frage, weshalb sie das Geld genommen haben, ausser dass daraus ein Roter Faden für die Handlung gezimmert werden konnte, bleibt bis zuletzt unbeantwortet.

Sehr viel klarer, aber nicht wirklich befriedigender ist die Antwort auf die selbe Frage bei Roberto Cuzzillos «Non accettare i sogni dagli sconsciuti». Er ist in seinen Hauptdarsteller verschossen und inszeniert ihn lasziv mit nacktem Oberkörper vor verschiedenen Naturschönheiten wie einem Sonnenuntergang, im Meer tauchend usw. Daneben kapriziert er eine regelrechte Reissbrettstory mit einem an den Haaren herbeigezogenen Aufklärungsfilmchen über die Situation von Homosexuellen in Russland. Allerdings, ohne auch nur je dort gewesen zu sein, was seinen Informationsgehalt über eine olle Kamelle nicht hinausbringt und auch nicht beantwortet, weshalb er sich nicht mit der Situation vor der eigenen Haustür in Italien beschäftigt hat.

In «Loev» von Sundhansu Saria, ist die Motivation der Hauptfigur Sahil einfach nur rätselhaft oder dann geht sie in Richtung pathologisch zu behandelnder Eigenart. Mit Alex lebt er zusammen, räumt ihm wie ein Muttchen dem Teenager alles hinterher und lässt sich in der Öffentlichkeit von ihm behandeln wie der letzte Dreck. Als der weltgewandte Businessmann Jai für ein Weekend auftaucht, lässt Sahil alles stehen und liegen und reist mit ihm in die idyllischen Berge. Ihre gegenseitige Zuneigung aber überschreitet den Zustand des Anhimmelns nur einmal und schlägt dann gleich ins andere Extrem der Vergewaltigung.  Der Kopf weiss, aha, da können ein paar nicht miteinander kommunizieren, und das ist neben der Unentschiedenheit Sahils, was respektive wen er will, das Thema. Emotional aber ist der Film ein eigentliches Ärgernis.

 

Ja, nein?

Im Zusammenhang mit einem Coming-Out stellt sich diese Frage leicht anders und ist darum ernsthafter und weit weniger ärgerlich, wenngleich nicht jeder Film dadurch automatisch zum cinéastischen Höhenflug wird. «Un Bacio» von Ivan Contronco ist ganz schön holzschnittartig aufgebaut. Der schrill-bunte Lorenzo kommt in eine neue Schule, wo er sich mit der Aussenseiterin Blu auf Anhieb anfreundet und sich unsterblich in den Basketballspieler Antonio verliebt. Die Pflegeeltern sind Abziehbildvorbilder für pädagogisch wertvolles Erziehen und finden in der Mutter Blus das bare Gegenteil einer Rabenmutter, die die Geheimnisse ihrer Tochter in einem öffentlichen Blog veräussert. Die Eskalation ist mit grosser Ankündigung absehbar und der erhobene Moralfinger – man solle miteinander reden statt gleich die Fäuste sprechen zu lassen – ist regelrecht aufsässig spürbar.

«Io e lei» von Maria Sole Tognazzi kämpft mit der Glaubwürdigkeit. Dass Federica und Marina seit fünf Jahren ein Paar sein sollen, kommt über eine Behauptung nicht hinaus. Dafür ist der Auftritt und die Lösung Marinas, nachdem sie entdeckt, dass Federica sich heimlich mit einer männlichen Jugendliebe verlustiert, ganz grosses Kino. Sie setzt sich ins Strassencafé zu den zweien, stellt sich vor und freut sich über die damit hergestellte Transparenz. Keinen Tag später lässt sie sämtliches Hab und Gut von Federica ungefragt in die Wohnung ihres neuen Lovers zügeln. Das sitzt und ist erfrischend.

Sebastian muss im gleichnamigen Film von Carlos Ciurlizza zurück in sein Heimatdorf in Peru, um die Mutter zu pflegen, die nach einem Schlaganfall darniederliegt. Dass sie ihn wegen seiner Homosexualität verstossen hat und ihn auch jetzt noch beschimpft, hindert ihn nicht daran. Auf seine Jugendliebe Lucia lässt er sich sofort wieder ein, was lange wie eine bewusste Heimkehr und Abkehr von der einst getroffenen Entscheidung, die eigene Homosexualität zu leben wirkt. Bis der Ehemann aus Los Angeles eintrifft und ein Verhalten von Sebastian fordert, das ihrer Liebe und ihrem Zivilstand angemessen ist. Hin- und hergerissen zwischen seiner unterdessen entdeckten Vaterschaft von Lucias Kind und der Hinwendung zu seinem Mann, verheddert sich der Film ein klein wenig stark in Rührseligkeit.

Ganz im Gegenteil sehr sarkastisch beginnt «Portrait of a serial monagamist» von John Mitchell und  Christina Zeidler über Elsie, die ein todsicheres Konzept hat, Freundinnen zu verlassen. Der Film ist insofern Mainstream, als dass er wie der eben erst im Kino gespielte «How to be a single» vorgibt, das selbstständige Leben als Single als Lebensentwurf hochzuhängen, um dann zuletzt doch die Happily-Ever-Partnerschaft als einzig dominierende Sehnsucht für ein erfülltes Leben inszeniert. Ich möchte mal einen Film sehen, der den Sarkasmus bis zum bitteren Ende durchhält und das glaubwürdig…

 

Historie

Nicht zuletzt sind Romanvorlagen und historische Gegebenheiten ein beliebtes Filmmaterial und nicht jeder ist so krud, wie «The Duke of Burgundy» von Peter Strickland, der am allerehesten noch als männliche Fantasieprojektion auf Sado-Maso-Praktiken in Frauenpartnerschaften durchgeht. Mit sehr viel Anstrengung kann man daraus noch herauslesen, dass die vermeintliche Rollenverteilung von Dominanz und Unterwerfung nicht zwingend den herkömmlichen Vorstellungen entsprechen muss.

«Holding the man» von Neil Armfield zeichnet eine wahre Liebesgeschichte zwischen Tim und John im Australien der 1970er-Jahre nach. Die Tragfähigkeit von inniger Verbundenheit und Liebe, die selbst gegen Anfeindungen des Klerus, der Schule, der Eltern, also der Gesellschaft zu bestehen vermag, nicht aber gegen die damals zwingend letale Wirkung einer HIV-Infektion. Hier passt die Sentimentalität und Melancholie der Form zum Inhalt wiewohl der Ankündigung und ist daher keineswegs als Fremdkörper, sondern vielmehr als eine Ode an die Romantik zu verstehen.

Die Dokufiction «Herr von Bohlen» von André Schäfer über den Krupp-Erben Arndt von Bohlen und Halbach ist wiederum sehr zweischneidig. Gezeigt im Rahmen des Schwerpunktes «Rettet die Tunten», ist er sehr wohl am rechten Ort, und der szenenintern herablassende Umgang mit effeminierten Schwulen darf ruhig mal wieder als fehlende Toleranz innerhalb der eigenen Peergroup thematisiert werden. Der Film an sich ist jedoch sehr viel mehr eine ausgedehnte ‹Gala›-Bilderstrecke mit nur sehr geringem Informationsgehalt – ausser der, dass diese Person offensichtlich existiert hat und auf das Erbe nicht zum eigenen Vorteil verzichtet hat, dafür ein Leben in Saus und Braus lebte. «The Girl King» von Mika Kaurismäki passt gut in diese Schwülstigkeit. Als Kostümfilm über das Leben der Schwedischen Königin Kristina, die sich zu heiraten weigert und statt dessen ihre adeligen Leibdienerinnen zum Wortwert hält, entspricht offenbar einem Bedürfnis der PinkApple-BesucherInnen – davon findet sich jedes Jahr mindestens ein Exempel im Programm.

 

Eitelkeit

Die Enttäuschungen dieses Jahr – bevor wir zum Schluss zum Publikumsliebling kommen – waren zwei Ego-Eitelkeits-Inszenierungen. Mattia Colombo filmt in «Voglio dormire con te» konzeptlos drauflos und befragt Bekannte zu ihrem Umgang mit Trennungen. Der Film ist aber dermassen fahrig, dass man zuletzt gar nicht weiss, ob und wenn ja, was er einem hätte erzählen wollen, wenn überhaupt. Wie immer in den darstellenden Künsten nervt es sehr, wenn jemand Bühne wie Zeit wie Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt und dann überhaupt nichts zu sagen hat. Ganz im Gegenteil dazu wissen Tomer und Barak Heymann sehr genau, was sie mit «Who’s gonna love me now?» erzählen wollen. Die Geschichte von Saar, der in einem Kibbuz aufwuchs und eine entsprechend gläubige Familie hat, ist suggestiv und manipulativ aufgebaut und stellt die jüdische Familie absichtlich als noch hinterwäldlerischer und unmoderner hin, als diese in Tat und Wahrheit ist. Wenn eine Familie wie hier regelrecht als Spitze der Verbohrtheit vorgeführt wird, die nötigen Fakten aber erst Dreiviertelstunden später in die Erzählung einfliessen, die ihre Reaktionen über weite Strecken als nachvollziehbare Bedenken erkennbar werden lassen, ist der vorzeitige Abbruch die einzige Möglichkeit, um nicht in die Nähe eines Tobsuchtsanfalls zu gelangen.

Dafür gibt es in «Chez Nous» überhaupt keinen Grund. Tim Oliehoeks schrille Tuntenbar-Rettung gewann in Zürich den Publikumspreis (die Dokumentar-Entsprechung «She’s beautiful when angry» konnte nicht gesehen werden) und beweist den publikumsseitigen Zuspruch zur seichten Komödie. Der turbulente Film vermengt Gattinneneifersucht auf die besten schwulen Freunde des Mannes mit dem Coming-Out des Proletenclubbesitzer-Sohnes, einem Raubüberfall, CSD-Euphorie und ist ein einziger Angriff auf Zwerchfell und Tränendrüsen. Gelächter aus lauter selbstironischem Unernst tut zuletzt einfach nur gut.

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