Rausflug riskieren oder Musterschülerin spielen?

Die Vorlage zum Ausbau des europäischen Grenzschutzes dürfte das hitzigste Polit-Thema des momentanen Abstimmungskampfes sein. Das bewahrheitet sich auch im Streitgespräch zwischen SP-Ständerat Daniel Jositsch und Operation Libero-Präsidentin sowie GLP-Gemeinderätin Sanija Ameti, das sich wie von selbst geführt hat – moderiert von Sergio Scagliola.

 

Was tun, wenn im europäischen Grenzschutz immer wieder Menschenrechtsverstösse durch Frontex publik werden?

Daniel Jositsch: Mittlerweile ist klar, die Schweiz müsste dringend intervenieren. Auch nach dem letztwöchigen Rücktritt des Fron­tex-Direktors Fabrice Leggeri ist offensichtlich, dass dort Dinge grundlegend nicht richtig funktionieren. Ich muss aber auch sagen: Ich war immer etwas gnädig mit Frontex, weil ich glaube, Frontex ist nur die ausführende Hand verfehlter Politik. Als ich vor Ort war, habe ich doch realisiert, was für ein enormer Druck auf diesen Aussengrenzen liegt. Diese ärmeren Länder Europas an den Aussengrenzen sind verzweifelt. Zentraleuropa zuckt derweil mit den Achseln und sagt: Nach Dublin-Abkommen ist das euer Problem. Ich denke also, es ist zu kurz gegriffen zu sagen, dass Frontex das alleinige Problem ist. Vielmehr ist es die absolut verfehlte und menschenunwürdige Flüchtlingspolitik des gesamten europäischen Kontinents, die von der Schweiz mitgetragen wird.

Sanija Ameti: Was die Kritik und den Reformbedarf von Frontex betrifft, sind wir uns vollkommen einig. Die erste Frage, die wir uns stellen müssen, ist aber: In welchem Forum kann die Schweiz überhaupt handeln? Wer die Grenze schützen soll und wie dies bewerkstelligt wird, entscheiden wir am Tisch mit den Schengen-Staaten und nicht an der Urne. Deshalb müssen wir uns von diesem Reduit-Gedanken lösen, dass wir mit einem nationalen Referendum etwas Gesamteuropäisches verbessern können. Das nationale Forum ist also das falsche Forum. Das zweite Problem ist, dass es bei der Abstimmungsfrage um eine Übernahme der EU-Verordnung geht, nicht etwa um eine Erhöhung der Flüchtlingskontingente. Und dieses Nein zur Übernahme von Schengen-Recht ist ein Nichtübernahmeentscheid, welcher das Ende von Schengen für die Schweiz bedeutet.

D.J.: Es geht aber um das Referendum gegen einen Bundesbeschluss. Wenn das Referendum angenommen wird, tritt der Bundesbeschluss nicht in Kraft. Sonst passiert vorläufig mal gar nichts. Ich habe in der letzten Session einen Vorstoss mit Verbesserungen der Vorlage eingereicht, etwa mit einer Resettlement-Quote, der in der nächsten Sitzung beraten wird. Natürlich wären die Nein-Stimmen in ihrer Motivation verschieden – aber wir können uns die Nein-Stimmen ja nicht aussuchen. Fakt ist aber, dass sie Nein zu Frontex stimmen können, solange sie wollen. Gegen den Ausbau können wir aber nicht viel tun, deshalb der Vorstoss. Was passieren würde wäre, dass wir verspätet zustimmen. Aber verspätet sind wir jetzt schon und trotzdem noch Schengen-Mitglied.

S.A.:.Das klang bei Ihnen im P.S. vom 18. Juni 2021 anders, Herr Jositsch, da sagten Sie, ich zitiere: «Es ist schwierig zu sagen, ob die Vorschläge der Linken gehört und umgesetzt werden. Aber am Schluss geht es bei Schengen schliesslich nicht um Zollformalitäten und Warenflüsse, sondern um Menschen. Das rechtfertigt auch, das Abkommen notfalls aufs Spiel zu setzen.» Sie haben explizit gesagt, dass das Abkommen aufs Spiel gesetzt würde. Jetzt widersprechen Sie sich.

D.J: Wir notifizieren aber kein Nein.

S.A.: Würden Sie dann nicht den Volksentscheid umgehen? Die Frage ist die nach der Übernahme der EU-Verordnung und Ihre Antwort, Herr Jositsch, ist ein Nein. Aber die einen sagen Nein, weil sie einen eigenen Grenzschutz wollen, andere, weil sie Frontex sowieso nicht wollen, und Herr Jositsch sagt Nein, um mit diesem Nein das Schengen-Abkommen als Geisel ins Parlament zu bringen und damit einhergehend eine Kontingenterhöhung zu fordern. Operation Libero will auch, dass das Flüchtlingskontingent erhöht wird, aber nicht, indem wir Schengen als Pokereinsatz im Parlament verwenden. Wenn sie diesen Poker spielen wollen, lege ich die Hand ins Feuer, dass die Bürgerlichen schon bald damit argumentieren werden, dieser Erpressungentscheid sei rückgängig zu machen.

D.J.: Sie finden es Erpressung, wenn wir im Parlament dafür kämpfen, dass mehr Leute in die Schweiz flüchten können?

S.A.: Wir kämpfen auch dafür und das wissen Sie. Aber wir kämpfen richtig und nicht über dieses Pokerspiel von einem Referendum. Wenn Sie einen Kompromiss im Parlament erreichen wollen, müssen Sie den harten, schwierigen, langwierigen Prozess gehen, um die Mehrheit im Parlament zu erreichen. Eine Kampagne, bei der Operation Libero immer bereit war, diese mit Ihnen zu fahren.

D.J.: Aber wenn Sie Ja sagen, kommt keine einzige zusätzliche Person in die Schweiz. Wenn wir aber Nein sagen, können wir eine Resettlement-Quote durchsetzen. Wir kämpfen um humanitäre Anliegen. Und da stehe ich auch nicht alleine da, die sozialdemokratische Fraktion will das im Parlament durchsetzen.

S.A.: Es geht aber nicht nur darum, was die SP sagt. Es geht darum, was das Volk an der Urne sagt. Und das Referendumskomitee sagt Nein per se zu Frontex. Sie können das Nein dann nicht so uminterpretieren, wie es Ihnen gefällt.

 

Wie soll man dann gegen illegale Pushbacks vorgehen, wenn nicht politisch? Die letzte Woche zeigte, dass es nicht ganz einfach ist, Leute rechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

S.A.: Das Problem ist: Wenn dieser Automatismus greift und wir nach 90 Tagen aus Schengen rausfallen, haben wir gar kein Mitspracherecht mehr. Jetzt haben wir zwei Sitze im Verwaltungsrat. Bei einem Nein müssten wir uns fragen, wie wir Frontex überhaupt noch kontrollieren. Die Schweiz kann bei einem Ja Grundrechts-ExpertInnen an die Front schicken, die für die Schweiz mitschauen, dass solche Verstösse nicht passieren.

D.J.: Was hat die Schweiz denn bisher gegen diese Verstösse gemacht?

S.A.: Es geht nicht darum, was wir bisher gemacht haben, es geht darum, dass wir es verbessern können.

D.J.: Ist ihnen schonmal aufgefallen: Es gibt ein Flüchtlingsproblem im Mittelmeer, es sterben ungefähr zehn Menschen pro Tag. Wir wollen die Resettlement-Quote erhöhen, dass eben mehr Geflüchtete in die Schweiz kommen können, dass niemand über diesen unmenschlichen Weg über das Mittelmeer hinweg auf Schlauchbooten treiben muss. Wir wollen Menschenleben retten. Ist Ihnen das klar? Das ist die Lösung, die wir suchen. Mir scheint, Sie wissen nicht, um was es hier geht.

S.A.: Als geflüchtete Person weiss ich das sehr wohl. Und ich erwarte von der Schweiz, dass sie Verantwortung an den Aussengrenzen übernimmt. Ich erwarte, dass sie GrundrechtsexpertInnen dorthin schickt, dass sie sich für eine grundlegende Reform von Frontex einsetzt und so ihre Mitverantwortung wahrnimmt. Wenn wir Nein sagen und der EU einfach blind Druck auferlegen, interessiert es wenig, was wir in unserem Reduit zu sagen haben. Um gehört zu werden, müssen wir mitreden. Wenn Herr Jositsch das Flüchtlingskontingent erhöhen will, dann sind wir die Ersten, die sich dafür einsetzen. Aber sicher nicht, indem wir aus Schengen herausschlittern. Das geht nicht.

D.J.: Wir haben uns dafür engagiert, dass mehr Menschen die Schlepperbanden umgehen und in die Schweiz kommen können.

S.A.: Wir ebenso. Aber ich finde es zynisch zu sagen, dass wir Verantwortung übernehmen, indem wir das Schengen-Abkommen aufs Spiel setzen. Wir wollen nicht unsere letzte Mitsprachemöglichkeit aufgeben.

D.J.: Und dann wollen Sie einfach mehr Geld reinpumpen?

S.A.: Sie doch auch, Sie wollen die Vorlage im Endeffekt auch übernehmen.

D.J.: Aber mit konkreten Verbesserungen. Sie wollen ein bedingungsloses Ja. So würden weiter Geflüchtete auf dem Mittelmeer ertrinken.

S.A.: Aber Herr Jositsch, Ihr Plan wird nicht aufgehen. Alle RechtsexpertInnen – ausser Ihnen – sind sich einig, das wir dann innert 90 Tagen aus Schengen automatisch rausschlittern. Immerhin: Das ist das Einzige, wo wir uns nicht einig sind.

D.J.: Also gut, dann konkret. Ich habe im Parlament verschiedene Vorstösse präsentiert, wie die Wiedereinführung des Botschaftsasyls oder eine Resettlement-Quote. Das wurde alles abgelehnt. Wir überlegen nun, zur Wiedereinführung des Botschaftsasyls eine Volksinitiative zu machen. Habe ich Ihre Zusage, dass Operation Libero und die GLP dies unterstützen?

S.A.: Heute bin ich als Vertreterin von Operation Libero hier und sage Ihnen zum Botschaftsasyl, zur Schaffung legaler Fluchtwege und zur Resettlement-Quote zu. Ich freue mich, endlich mit Ihnen europapolitisch zusammenzuarbeiten.

D.J.: Gut, dann sind wir uns da ja einig. Aber sprechen Sie doch darüber, wie wir das Problem lösen können, sonst drehen wir uns noch lang im Kreis. Ich habe Ihnen erklärt, warum wir nicht aus Schengen rausfallen. Wir haben nie gesagt, dass das Problem mit einem Nein gelöst ist, wir haben lediglich gesagt: Wir können Frontex so nicht ändern, aber immerhin flankierende Massnahmen beschliessen und dabei internationale europäische Zusammenarbeit initiieren. Die Schweiz ist als Nicht-EU-Mitglied natürlich ein wenig im Offside, aber eine Ergänzung der Richtlinie ist nötig. Und mit einem Nein könnten wir dann wiederum Mehrheiten im Parlament schaffen, eben weil wir ein Volksnein haben.

S.A.: Das sehen wir nicht so. Wenn es ein Nein gibt, dann ein Nein zur Übernahme der Verordnung und dann ist fertig mit Schengen. Selbst wenn die Schengen-Staaten sich einstimmig gegen den automatischen Selbstrauswurf  aussprechen würden, wird ein Nein Konsequenzen haben. Sie wollen mehr europäische Zusammenarbeit, und diese braucht es für die Schaffung legaler Fluchtrouten, zeigen aber, dass die Schweiz wiedermal ein unzuverlässiger Partner Europas ist. Und parallel müssen Sie dann allen erklären, die Nein zu Frontex gestimmt haben, warum die SP doch Ja zum Ausbau sagt.

D.J.: Was meinen Sie, was ich gerade mache? Wir sind ja die ganze Zeit dran. Kein Mensch kann behaupten, wir hätten nicht transparent gemacht, dass wir diesen Vorstoss eingereicht haben. Wir wollen der Frontex-Vorlage zustimmen, aber wir sagen auch, es braucht flankierende Massnahmen. Angenommen. das Referendum kommt durch: Was macht Ueli Maurer einen Tag später? Er ruft nach Brüssel an und sagt, wir müssen nochmals eine Schlaufe machen. Und das ist im Dezember ja bereits passiert. Wir wären schon draussen.

 

Bei der Waffenrichtlinie hatten Sie, Herr Jositsch, aber ein ähnliches Argument mit Schengen – Sie warnten, dass wir da rausfliegen könnten. Wieso ist es jetzt anders?

D.J.: Wenn auf völkerrechtlicher Ebene etwas ausgehandelt wird, wie bei der Schengen-Erweiterung oder der Waffenrichtlinie, können Sie das so nicht mehr ändern. Damals hatte die SVP gesagt, sie wolle diese Richtlinie nicht, der Bundesrat habe schlecht verhandelt und müsse das nochmals verhandeln gehen. Dafür hätte man mitteilen müssen, dass die Schweiz das nicht akzeptiert und innert 90 Tagen hätte dieses Thema neu verhandelt werden müssen. Da hatten wir gesagt: Das funktioniert nicht. Jetzt geht es lediglich darum, anzurufen und mitzuteilen, dass es noch einen Moment geht. Einige Monate später würden wir dann kommunizieren, dass wir nun notifizieren. Das ist der Unterschied. Bei der Vorlage zu Frontex wollen wir nicht die Vorlage verändern, sondern nur, was innerstaatlich drumherum gemacht wird.

 

Aber was, wenn Sie sich verkalkulieren?

D.J.: Wir fliegen nicht raus. Das kann ich Ihnen nicht anders sagen. Und wir setzen Schengen nicht aufs Spiel. Aber wir müssen jetzt diesen Umweg über eine Volksabstimmung nehmen. Es geht schliesslich nicht anders, Sie wissen, wie schwer es Vorstösse in der Flüchtlingspolitik im Parlament haben. Ich kann nicht einfach die Mehrheitsverhältnisse ändern.

S.A.: Die Frage ist, ob Sie die Mehrheitsverhältnisse im Parlament ändern, indem wir jetzt Nein stimmen.

D.J.: Nein, aber Sie können Sie ändern, indem Sie nächsten Herbst SP wählen. Ein Punkt, der mir als Proeuropäer aber wichtig ist, wäre da noch: Wenn Sie den Leuten fälschlicherweise erzählen, sie hätten keinen Handlungsspielraum, macht das die Leute wütend. Und gibt zudem eben den Eindruck, man müsse in Europa einfach gehorchen. Das stimmt nicht. Wir müssen auch nicht möglichst brav sein. Wir sind uns ja einig, was der Bundesrat letztes Jahr veranstaltet hat, war eine absolute Katastrophe, aber deshalb muss die Schweiz jetzt auch nicht die Musterschülerin spielen. Wir sind ein autonomer Staat wie jeder andere im Schengen-Raum.

S.A.: Aber wir sprechen von einem gesamteuropäischen Problem. Da kann die Schweiz noch so lange Nein sagen, in Europa interessiert das niemanden. Wie wollen Sie so etwas verändern?

D.J.: Ich habe nie behauptet, wir können etwas verändern am europäischen System. Aber wir können für einige hundert Leute eine legale Fluchtroute schaffen. Und es würde sich sogar bei einem Menschen lohnen, dies zu versuchen.

S.A.: Da sind wir uns ja einig. Auch wenn wir Ihren Weg als den falschen betrachten.

 

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