Zürich in grüner Hand?

Die Grünen stellen seit dieser Woche sowohl das Kantons- als auch das Gemeinderatspräsidium. Simon Muster hat mit den beiden RatspräsidentInnen, Esther Guyer und Matthias Probst, über politischen Konsens, Macht und die Zukunft der grünen Welle gesprochen. 

 

Esther Guyer wirkt gelassen an diesem Dienstagmorgen nach ihrer Wahl zur Kantonsratspräsidentin, und viel wichtiger, nach dem anschliessenden Fest im Volkshaus. Spuren einer durchzechten Nacht oder gar Katerstimmung sucht man allerdings vergebens. Sie sei vor allem dort gewesen, um die Leute zu unterhalten – «da bin ich selbst nicht so zum Trinken gekommen», witzelt die 70jährige Grünenpolitikerin beim Kaffee. Wir sitzen in einer Bäckerei gegenüber dem Hunziker-Areal und beobachten, wie ihr Parteikollege Matthias Probst von dort über die Strasse hetzt. 

 

Der designierte Gemeinderatspräsident steckt gerade selbst in der Planung seiner eigenen Feier, die am Mittwoch im Rahmen des Hunziker-Festivals steigen wird. Immer wieder schaut er während des Gesprächs aus dem Fenster – er will nichts dem Zufall überlassen und keine Warenlieferung verpassen.

 

Die Grünen stellen mit Ihnen beiden die höchste Kantonszürcherin und den höchsten Stadtzürcher. Hat die ‹grüne Welle› in Zürich gerade ihren Höhepunkt erreicht? 

Matthias Probst: Ja, und die Nationalratspräsidentin stellen wir auch noch! (lacht) 

Esther Guyer: Es ist sicher ein Höhepunkt, den wir den Wahlerfolgen der letzten Jahre zu verdanken haben. Eigentlich hätten die Grünen nach dem Ratskalender erst in zwölf Jahren wieder das Ratspräsidium besetzt, aber unser Wahlsieg bei den Kantonsratswahlen 2019 hat alles durchgeschüttelt. 

M.P.: Das stimmt, wobei die Machtverschiebungen im Kantonsrat gravierender waren als bei uns in der Stadt nach den Wahlen im Februar. Hier haben wir Linken ja seit Jahren die komfortable Situation, eine Mehrheit zu haben.

 

Glaubt man den bürgerlichen KritikerInnen, nutzen Sie diese Mehrheit in der Stadt gnadenlos aus.

M.P.: Klar, der Vorwurf ist da, aber faktisch haben wir ja kaum etwas erreicht mit dieser Mehrheit. Die Ausnahme ist der Richtplan Verkehr, der substanziell etwas ändert. Den hätte man auch mit ruhigerer Hand durch den Gemeinderat gebracht. 

E.G.: Im Kantonsrat hatten wir jahrelang die umgekehrte Situation: Die bürgerlichen Parteien konnten machen, was sie wollten, haben aber nichts erreicht. Die immer gleichen Mehrheiten tun einem Parlamentsbetrieb nicht gut. Mit der Klimaallianz aus SP, Grüne, EVP und AL können wir jetzt endlich vorwärtsmachen und haben gleichzeitig dafür gesorgt, dass keine Partei die Klimafrage ignorieren kann.

M.P.: Das hat natürlich auch damit zu tun, dass sich bei euch über zwanzig Jahre hinweg Ideen angestaut haben, die ihr bis zu den letzten Wahlen nicht umsetzen konntet. Wenn wir in der Stadt eine Idee haben, können wir die immer sofort platzieren. Zugespitzt gesagt, haben wir in den letzten Jahren vor allem Politik gegen die Verwaltung, nicht gegen das Parlament betrieben.

E.G.: Da könntet ihr noch einiges von uns lernen. Wir sind es gewohnt, dass es Kompromisse braucht, um vorwärtszukommen. 

 

Immer wieder feixt Guyer auf diese Art gutgelaunt und wohlwollend mit Probst. Nach fast einem Vierteljahrhundert Politik im Gegenwind ist aus der einstigen 68erin eine überzeugte, wenn auch provokante Konsenspolitikerin geworden. 

 

Ein solcher Kompromiss sind ja die beiden Klimaziele, über die wir am 15. Mai sowohl im Kanton als auch in der Stadt abstimmen. So soll etwa die Stadt Zürich bis 2040 klimaneu­tral werden, zehn Jahre später, als die Grünen ursprünglich gefordert haben. Auch das Klimaziel auf Kantonsebene wird als zahnlos kritisiert. Ist das Kuschen vor der bürgerlichen Opposition oder grüne Realpolitik?

E.G.: Das ist Realpolitik. Als ich vom Kompromiss gelesen habe, war ich stolz auf die städtischen Grünen.

M.P.: Bei einem so wichtigen Thema wie der Klimapolitik liegt es nicht drin, mit einer hauchdünnen Mehrheit vorwärtszumachen, sonst fliegt uns das Ganze um die Ohren und wir stehen ohne verbindliche Klimaziele da. 

E.G.: Genau.

M.P.: Deswegen bin ich froh, dass wir es geschafft haben, bis zur FDP eine Mehrheit für das städtische Klimaziel zu finden. Das zeigt auch die Rolle der Grünen: Wir werfen den Stock möglichst weit nach vorne, schauen, wo dieser Wellen wirft, blicken dann zurück und schliessen Kompromisse.

 

Diese grüne Realpolitik beisst sich aber mit der Dringlichkeit der Klimakrise, auf die die Grünen vor den Wahlen jeweils hinweisen. Der Klimastreik kritisiert sie genau dafür. 

E.G.: Der Weg von der heutigen Situation dorthin, wo wir hinwollen, besteht aus viel parlamentarischem Handwerk. Bei der Diskussion über den Ersatz der Erdölheizungen hat sich ja gezeigt, dass auch Herausforderungen der Klimakrise ganz profaner Natur sind. Die HeizugsinstallateurInnen haben einfach jahrelang das empfohlen, was sie bereits gekannt haben. Mit dem neuen Energiegesetz werden sie jetzt sensibilisiert und der Ersatz von Erdölheizungen gefördert. Mit solchen Problemen müssen wir uns im Parlament auseinandersetzen. 

M.P.: Wir Grünen sind Teil der Klimastreikbewegung, es gibt viele junge Grüne, die an vorderster Front mitlaufen und dort politisiert werden. Ich bin auch an vielen Demos mitgelaufen…

E.G.: Ich auch, aber nur am Anfang. Oh Gott, diese Befindlichkeiten. Ich versteh das schon, das ist jugendliche Ungeduld, aber ich bin genug alt, das nicht mehr zu haben.

M.P.: Das ist eine neue Generation, die anders kommuniziert wie wir. Da müssen wir Alten uns auch zurücknehmen, Esther. Ich erinnere mich, dass einige VertreterInnen des Klimastreiks nach einer gemeinsamen Sitzung mit uns schockiert waren über unsere Debattenkultur, dieses ganze machoide Getue. Von der Art, wie die Klimabewegung miteinander redet, können wir etwas lernen. 

E.G.: Ja, und die Bewegung ist ja auch wertvoll für uns. Aber wir müssen ihnen auch vermitteln, dass es Gesetze und Verbindlichkeiten braucht. Demokratie und Rechtsstaat sind unsere Pfeiler und an die müssen wir uns halten.

 

Auch in anderen Themen sind sich Esther Guyer und Matthias Probst nicht einig, etwa bei Mario Fehr (Probst: «Er stellt sich gerne ins Rampenlicht» versus Guyer: «Er hat die Sozialpolitik im Kanton vorwärtsgebracht») oder bei der Idee einer StellvertreterInnenlösung im Parlament (Probst: «Das stärkt die Vereinbarkeit von Familie und Politik» vs. Guyer: «Das schwächt das Parlament»). 

 

Apropos Debattenkultur: Gemäss NZZ haben Sie als langjährige Fraktionspräsidentin der Grünen die Kunst der Zwischenrufe wie keine andere Politikerin beherrscht. Jetzt müssen Sie selbst für Ordnung im Saal sorgen. Können Sie das überhaupt, Frau Guyer?

E.G.: Klar, aber ich werde es vermissen, selbst Zwischenrufe zu machen. (lacht) Nein ernsthaft: Wir haben klare Richtlinien und ich werde mich natürlich an diese halten. 

 

Sie haben ja gestern bereits einen ersten Pflock eingeschlagen und angekündigt, dass die RednerInnenliste im Kantonsrat neu nicht nach Fraktionsgrösse, sondern danach, wer sich zuerst meldet, geordnet werden soll…

E.G.: … und jetzt beschweren sich natürlich bereits die grossen Fraktionen. Aber das Kantonsratsgesetz hält fest, dass die Parlamentspräsidentin bestimmt, wie die Debatte abläuft. Ich habe gestern gesagt, dass ich mir mehr Debatte und weniger Rede wünsche. 

M.P.: Im Gemeinderat ordnen wir die RednerInnenliste nach Datum der Anmeldung. Da halten zwar auch alle ihre Referate ab, aber ein bisschen mehr Dynamik als im Kantonsrat haben wir schon. 

 

Herr Probst, Sie überraschen mich heute ein wenig. Nach meiner Vorrecherche zu Ihnen hätte ich nicht erwartet, dass Sie hier so die Wichtigkeit von politischem Konsens betonen. Schliesslich stammt von Ihnen der Satz, «nur ein toter Parkplatz ist ein guter Parkplatz».

E.G.: (lacht laut auf)

M.P.: Meine politische Positionierung am linken Rand schliesst ja nicht aus, dass ich auch Kompromisse finden will. Schliesslich will ich politisch etwas erreichen. Bei manchen Themen lohnt es sich, klangvoll unterzugehen, um Akzente zu setzen. Wenn ich aber nur das machen würde, hat man am Ende des Tages nur klangvolle Untergänge, aber kein einziges Gesetz geändert. Ich finde es extrem spannend, mit anderen politisch zu ringen und einen Kompromiss zu erarbeiten. 

 

Für Esther Guyer, die seit 1998 im Kantonsrat sitzt, markiert ihr Präsidialjahr gleichzeitig das Ende ihrer politischen Karriere. Der 40jährige Matthias Probst gehört mit seinen nun 16 Jahren Gemeinderatserfahrung bereits zu den erfahrensten Politikern im Gemeinderat. Ans Aufhören denkt er nicht. 

 

Die grüne Welle verschiebt auch die Machtverhältnisse zwischen der SP und den Grünen. Wie steht es um das Verhältnis mit den SozialdemokratInnen? 

E.G.: Das Verhältnis bei uns im Kantonsrat ist gut, wir haben oft die gleichen Ideen und ziehen am gleichen Strang. Das müssen wir mit den Mehrheitsverhältnissen aber auch. Innerhalb der Klimaallianz im Kantonsrat sucht die SP aber nach einer eigenen Rolle, indem sie etwa Massnahmen ablehnen, wenn diese die Mieten um ein paar Franken verteuert. Das halte ich nicht für sinnvoll.

M.P.: In der Stadt Zürich führt weiterhin kein Weg an der SP vorbei. Zurzeit hat die SP aus meiner Sicht aber ein Profilierungspro­blem, weil dort eine neue Generation übernommen hat, die die Idee einer staatstragenden Partei vielleicht noch nicht ganz verstanden hat. Auch ihre Medienarbeit, die sie aufgezogen hat, macht Politik nicht ganz einfach. Aber das hat mehr mit dem ‹Apparat SP› zu tun und weniger mit den Personen.

 

Wie geht es mit der grünen Welle weiter? 

M.P.: Die Zeichen der Zeit sind klar auf unserer Seite. Die grünen Themen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen und wir vertreten sie am glaubwürdigsten. Aber die Grünen dürfen aus meiner Sicht nicht zu gross werden, sonst werden wir zu träge und von einer anderen, neuen linksgrünen Partei überholt. Zu viel Macht verdirbt die Suppe.

E.G.: Das glaube ich nicht, da bin ich optimistischer als du. Wir sind uns gewohnt, mit neuen Ideen voranzuschreiten und das werden wir auch mit mehr Macht nicht ändern.

 

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