Paradigmenwechsel

Eine häufige Klage in der Politik ist die, dass alles immer so lange dauere. Und dass sich kaum etwas verändert. Das stimmt, aber manchmal eben auch nicht ganz. 

In den letzten Monaten habe ich begonnen, eine ältere Serie wieder zu schauen. Und zwar «The West Wing», eine Serie über den Arbeitsalltag des US-Präsidenten und seiner engsten Berater:innen. Die Serie lief von 1999–2006. Die Serie ist eigentlich gut gealtert, aber man merkt dann doch, dass sich die Zeiten geändert haben. Und nicht nur wegen der Mode. So ist der fiktive Präsident Josiah Bartlett zwar ein Progressiver, vermeidet aber dennoch tunlichst, gewisse heisse Eisen wie Abtreibung zu diskutieren. Oder darüber, ob Schwule und Lesben in der Armee dienen dürfen. «Don’t ask, don’t tell» hiess die Devise damals, also nicht fragen und nichts sagen.  Nun gut, könnte man sagen, gesellschaftspolitisch hat sich in den letzten Jahren einiges bewegt. In den USA, aber auch in der Schweiz. Eine Ehe für alle wurde pro­blemlos angenommen, zwei Antiabtreibungsinitiativen sind schon in der Sammelphase gescheitert. Die USA haben zwar bei der Abtreibung einen grossen Rückschritt erfahren, aber für die Demokraten ist die Frage vom Pfui-Thema zum grossen Wahlschlager geworden.  

Aber es gibt sogar auch wirtschaftspolitische Veränderungen. Das zeigt eine exemplarische Folge, die sich um den Freihandel dreht. Der fiktive Präsident ist Ökonom und als solcher nicht unbedingt allgemein verständlich. Sein Stab versucht ihn daher auf eine einfache Botschaft einzuschwören: Freihandel sorge für mehr und für bessere Jobs. Dass es wohl doch nicht so ganz einfach ist und vielleicht auch nicht ganz so stimmt, merkt der stellvertretende Stabschef in der gleichen Folge. Eine Änderung der Politik erfolgt allerdings nicht, denn unter dem Strich glauben die Protagonist:innen dennoch an die einfache Formel, wonach unter dem Strich der Freihandel für alle profitabel sei. Es halt einfach noch etwas mehr Übergangsmassnahmen, mehr Umschulungen, mehr Abfederungen brauche. 

Nun gab es immer – auch aus der Ökonomie – durchaus kritische Stimmen und Auseinandersetzungen rund um die Globalisierung, die die kritischen Punkte bei der Globalisierung thematisierten. Dass Globalisierung auch zu einem Demokratie- und Souveränitätsverlust führen kann und dass sie nicht nur Gewinner, sondern tatsächlich auch etliche Verlierer schafft. Die Politik selber blieb davon lange grösstenteils unbeeindruckt. Doch mittlerweile hat sich hier die Stimmung geändert. Donald Trump positionierte sich 2016 als Globalisierungskritiker und stellte damit die bisherige Politik der Republikaner auf den Kopf.

Doch auch die Demokraten sind nicht mehr so überzeugt, wie sie es zu Bartletts Zeiten noch waren. Im März hielt der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan eine vielbeachtete Rede bei einem amerikanischen Thinktank, in dem er zugab, dass sich viele Versprechen der Globalisierung nicht ganz erfüllt hätten. Der Freihandel, die globale Zusammenarbeit und die wirtschaftlichen Abhängigkeiten hätten die Welt nicht per se freier, offener und friedlicher gemacht, wie man dies jahrzehntelang glaubte. Der Journalist Thomas Friedman hatte 1996 die These aufgestellt, dass Länder, in denen es McDonalds-Filialen gäbe, miteinander keinen Krieg führen würden. Dies, weil die Voraussetzung eine ausreichend grosse Mittelklasse ist, die es nicht schätzen würde, wenn ihr Land in den Krieg zieht. In der Realität wurde die McDonalds-These natürlich widerlegt, jüngst gerade in der Ukraine.  

Die wirtschaftlichen Interdependenzen haben teilweise die Unsicherheiten sogar erhöht, wie wir jetzt beispielsweise bei den Energiepreisen oder den Problemen mit Lieferketten sehen. Genauso ungelöst ist die Abhängigkeit von gewissen Rohstoffen. Und zudem hätte die Globalisierung auch viele Verlierer produziert.

Das Problem, so Sullivan, sei, dass man geglaubt habe, dass Märkte immer funktionieren und Kapital immer produktiv und effektiv verteilen. In der Realität hätten Deregulierungen und Privatisierungen aber dazu geführt, dass ganze Industrien mitsamt ihren Arbeitsstellen verlagert wurden, ohne dass sie zwangsläufig durch bessere Jobs ersetzt wurden. Der zweite Irrtum sei, dass es nicht darauf ankäme, welche Form von Wachstum man habe. Die Kombination dieser Faktoren führte dazu, dass gewisse Sektoren wie der Finanzsektor bevorteilt wurden, während andere Sektoren wie die Industrie Mühe bekamen. Zusammen mit den fehlenden Investitionen in die Infrastruktur habe dies auch dazu geführt, dass die USA in wichtigen Technologien und Industrien den Anschluss verloren hätten. Sullivan und die Biden-Administration setzten jetzt also auf klassische Industriepolitik, die in den letzten Jahrzehnten aus der Mode geraten ist. 

«Bidenonomics» nennt Joe Biden sein Wirtschaftsprogramm. Neben der Industriepolitik und Investitionen in die Infrastruktur will er auch die Steuern für Vermögende und Grossunternehmen erhöhen und die Gewerkschaften stärken. «Biden­onomics» ist klar als Kontrastprogramm zu den «Reagonomics» gedacht, die unter Präsident Ronald Reagan propagiert wurden. Dabei ging es vor allem darum, der Wirtschaft freie Hand zu lassen und Steuern für Vermögende, Gutverdienende und Grosskonzerne zu senken, mit dem Versprechen, es würden am Schluss alle davon profitieren.  Es ist nicht so, dass keiner mehr diese Art von Politik vertritt. Nur wird nicht mehr behauptet, es würden davon alle profitieren. Vielleicht, weil es sich als zu offensichtlich falsch entpuppt hat. Vielleicht ist nach über vierzig Jahren neoliberaler Propaganda die Steuersenkung auch einfach zum Selbstzweck geworden.

Die Schweiz betreibt keine eigentliche Indus­triepolitik und lehnt solche Vorstösse und Ansätze regelmässig vehement ab. Das wird als Erfolgsfaktor gepriesen, wie beispielsweise Avenir Suisse 2021 schreibt: «Die Schweiz deindustrialisiert sich nicht, sie tertiärisiert sich. (…) Der Strukturwandel hat nicht zum viel befürchteten Anstieg der Arbeitslosenzahlen, sondern zu einer Umschichtung von Arbeitsplätzen geführt.» Das Problem ist allerdings, dass wir diese tertiätisierten Fachkräfte nicht haben, die diese Arbeitsstellen übernehmen sollten. Und dieses Problem auch nicht lösen wollen, weil keiner der möglichen Lösungen – sei es Zuwanderung, die eigene Ausbildung der Fachkräfte oder bessere Vereinbarkeit – eine politische Mehrheit findet. Aber das ist ein anderes Thema. Aber eines, bei dem es auch mal einen Paradigmenwechsel braucht. 

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