Obacht: K-Wort!

Als Freundin der englischen Sprache staune ich immer wieder über das Klassenbewusstsein der britischen Gesellschaft. Menschen aus der Arbeiterklasse sprechen deutlich hörbar anders als jene aus der Oberschicht, und wer sich auskennt, kann anhand der Aussprache oder des Vokabulars auch in der Mittelschicht noch eine obere, mittlere oder untere ausmachen. In der Schweiz scheint – auf den ersten Blick – die Abstammung nicht so schicksalshaft prägend: Wir rühmen uns, eine durchlässige Gesellschaft zu sein, in der alle «mit redlichem Bemühen» etwas aus sich machen können.

Natürlich gibt es auch hier Enklaven hartnäckig überdauernden Geburtsadels, wie etwa den Basler «Daig» oder die Berner «Burger», ferner der Sprachgrenze entlang säuberlich ausseinanderdividierte Gesellschaften wie etwa in Fribourg/Freiburg, oder aber jenen Kanton, wo wir Ausserirdisch-, Pardon: Ausserschweizer als Tourist:innen durchaus willkommen sind. Über Klassen spricht aber niemand. Das klingt nach Kommunismus, Neid und Politik. Viel eher soll den Tüchtigen das Glück lachen – diese bringen es zwar selten vom Tellerwäscher zum Millionär oder von der Kosmetikerin zur Influencerin, aber einige Vorzeigeexemplare kamen auch schon zu Reichtum oder 15 Minuten Ruhm.

Während es wohl wahr ist, dass ohne Fleiss kein Preis winkt, ist umgekehrt kein Automatismus gegeben: Nicht einmal ein Universitätsabschluss garantiert hierzulande finanzielle Prosperität. Man gehört dann zwar zur Bildungs-Oberschicht, aber ökonomisch droht gleichwohl das akademische Prekariat. Noch eher kann ein «Büezer» es mit einem KMU zu etwas bringen und auch deutlich mehr verdienen als etwa eine Primarlehrerin. Anders als in England wird bei uns niemand als Emporkömmling entlarvt, der die Klassencodes nicht im Effeff beherrscht. Im Gegenteil. Die Schweiz fällt gerne auf den umgekehrten Bluff herein – wenn ein Oberschichtler wie etwa Blocher so hemdsärmlig tut, als hätte er in seiner Jugend noch Pferdeäpfel von der Strasse aufgelesen, um sein Taschengeld zu verdienen. Vielleicht spricht die Verachtung von «intellektuellen Eliten» aus Volkes Seele, vielleicht auch der Mythos, «wir» seien alle einmal arm gewesen und hätten uns aus eigner Kraft hochgearbeitet, wenn die Schweiz sich mit den «einfachen Leuten» verbrüdert: Wenn Sekundarschülerinnen Balkan-«Bro»-Prollsprech intonieren; wenn unser erfolgreichster Popkünstler «Gölä» auf Unterhund macht; wenn die eidgenössischen Räte im Bauernstand die Bedürftigsten erkennen und sie mit Subventionen zuschütten…

Mit dieser Selbstlüge täuscht die gutbürgerliche Schweiz sich darüber hinweg, dass sie ihren Wohlstand eher selten dem Schweisse ihres Angesichts, sondern viel häufiger dem Nachlass ihrer Wirtschaftswunder-Altvorderen zu verdanken hat – und dass dieses «Wunder» auf dem Buckel entrechteter Ausländer, so genannter Saisonniers, und ihrer späteren Frauen, fleissiger «Töchter» unter katholischer Obhut, zustande kam. Solch rechtschaffene Selbstgerechtigkeit macht die stimmberechtigte Schweiz offenbar taub und blind: gegenüber jener zugewanderten Unterschicht, der damals wie heute der Lohn nicht zum Leben reicht, die um staatsbürgerliche Rechte und soziale Absicherung betrogen und nicht selten menschlicher Würde beraubt wird, während sie unsere Häuser baut, unsere Böden schrubbt, unsere Alten pflegt…

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