Eine Kleinpartei bringt sich in Stellung

Sowohl für die Kandidierenden der AL als auch für Beobachter:innen ist klar, dass ein Einzug der Zürcher Kleinpartei ins nationale Parlament eine kleine Sensation wäre. Aber vielleicht ist das Jahr 2023 genau das richtige Jahr für einen unerwarteten Erfolg.

Trotz des kleinen Wahlkampfbudgets, trotz der Niederlage bei den kantonalen Wahlen im Frühjahr, wo man einen Sitz im Kantonsrat verloren hatte, und einem ähnlichen Resultat bei den Gemeinderatswahlen 2022, wo sogar zwei Sitze verlorengingen – die AL zeigt sich, wie so oft, optimistisch und selbstbewusst. Dieser Optimismus hat mit einem pragmatischen, klar formulierten Programm zu tun. So stellt Anne-Claude Hensch, eine der drei Topkandidat:innen für das Rennen im Herbst, an der Medienkonferenz zur Kandidatur bei den nationalen Wahlen fest: «Die AL gehört auf die nationale Politbühne – weil sie Lösungen zu Themen bietet, die aktuell vielen Menschen im Kanton und auch landesweit Sorgen bereiten.» Man will also dort ansetzen, wo seit jeher eine bürgerliche Mehrheit regiert – und gleichzeitig einen eigenen Pol neben dem SP- und gründominierten linken Block darstellen, der wohl eine gewisse Uniformität nicht komplett von sich weisen kann. Gerade in der Lokalpolitik zeigt die AL, dass sie dem linksgrünen Konsens nicht immer diskussionslos folgt, sondern ab und an auch mal SP und Grünen einen Strich durch die Rechnung macht. Oder in den Worten der Partei: «Die AL ist eine unverbrauchte Kraft und nicht an Machtstrukturen gebunden, sie will unruhig und unbequem hantieren – mittels klarer Linie und nicht mittels Polarisierung des Diskurses», heisst es an der Medienkonferenz zu den Wahlen. Und weiter: Die AL wolle linksalternative Positionen in der Bundespolitik stärken respektive dafür sorgen, dass sie überhaupt vertreten sind. Dafür stellt sie drei profilierte Zürcher Kandidat:innen auf: Kantonsrätin Anne-Claude Hensch, alt-Gemeinderätin Olivia Romanelli und Gemeinderat David Garcia Nuñez – die Liste ist natürlich länger, und sogar alt-Stadtrat Richi Wolff findet sich auf dem letzten Listenplatz wieder, aber man ist sich natürlich seiner realen Chancen bewusst.

«Die Leute haben nicht auf uns gewartet»

Das weiss auch Anne-Claude Hensch: «Die Leute haben nicht auf uns gewartet.» Vielleicht geht es aber auch weniger um die realen Chancen oder den Unterschied, den einige AL-Politiker:innen in Bundesbern machen würden – sondern um den Status quo. Dieser ist auch das Hauptthema der politischen Forderungen, mit denen die Kleinpartei in den Wahlkampf geht. Vier Fragen stehen im Fokus: Was wäre, wenn wir 1. die Miete für Wohnraum und nicht für Profite von Immohaien zahlen würden, wir 2. die Probleme im Gesundheitswesen endlich anpacken und nicht nur verwalten würden, 3. die Grundrechte konsequent für alle Menschen gelten würden und 4. unsere Lohnarbeit entsprechend ihrem Wert für unsere Gesellschaft entlöhnt würde?

Ein Blick in die Forderungskataloge anderer linken Parteien, insbesondere der SP, offenbaren eine gewisse Überschneidung. Das ist allerdings weniger eine stromlinienförmige Anpassung an den innerlinken Diskurs, sondern in vielen Aspekten ein Programm, an dem die AL seit vielen Jahren festhält. Und das teils mit Erfolg. So hat die AL zum Beispiel ein Pilotprojekt zur 35-Stunden-Woche durchgebracht, fordert längst, dass bei Sanierung von Wohnungen keine Leerkündigungen erfolgen dürfen und ist seit Beginn stark involviert in die Aufarbeitung des Skandals bezüglich möglicher Verletzungen der UNO-Kinderrechtskonvention bei der Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA). Letzteres ist ein besonders wichtiges Anliegen für Anne-Claude Hensch, das sie gerne auf die nationale Bühne tragen würde: «Eine durchgängige Verbesserung der Situation aller UMA in der Schweiz ist eines meiner politischen Ziele. Ab der Aufnahme in die Bundesasylzentren soll die Umsetzung der UNO-Kinderrechtskonvention garantiert sein, d.h. gleichwertige Betreuung und Beschulung wie für inländische Kinder und Jugendliche, die nicht in der eigenen Familie aufwachsen. Und der Praxis des SEM, dass UMA ab 16 Jahren zu sogenannt selbstständigen UMA (SUMA) deklariert werden, gehört ein Riegel geschoben. Es gibt keine gesetzliche Grundlage dazu und verstösst krass gegen die UNO-Kinderrechtskonvention.»

Fertig mit «Pflästerchenpolitik»

Interessant ist, dass die AL sich programmatisch insbesondere über den Fokus auf Grundrechte von den anderen linken Parteien unterscheidet: Vor allem im Bereich KI. Obschon Regulation von künstlicher Intelligenz immer wieder Thema wird, ist das nur bei der AL ein Hauptpunkt des Programms. Sie fordert: Eine Deklarationspflicht bei Einsatz von KI-Anwendungen sowie eine Transparenzpflicht, mit welchen Daten die KI gespeist wird.

Ein weiteres Steckenpferd der AL ist unsere Gesundheitspolitik – die bei der Partei chronische Kopfschmerzen verursacht. Dies einerseits auf der Seite der Bevölkerung, wo steigende Krankenkassenprämien sich auf Kaufkraft und die individuellen Finanzen allgemein negativ auswirken, aber auch auf Seite des Gesundheitspersonals, dessen Arbeitsbedingungen sich weiter verschlechtern, so der Fachkräftemangel befeuert wird – und so die Grundversorgung allgemein torpediert wird. Das bereitet David Garcia Nuñez, hauptberuflich Arzt, ganz speziell Sorgen: «Die permanente Verschiebung der Gesundheitskosten von der staatlichen Seite in die privaten Haushaltskassen ist das grösste gesundheitspolitische Problem in unserem Land. Die Krankenkassenprämiemisere ist eine direkte Folge, dass die Kantone immer weniger Geld für die Prämienverbilligungen aufwenden und Leistungen in chaotischer Art und Weise ins ambulante Setting schieben. Das Problem kann daher nur durch eine Zentralisierung und Koordination der medizinischen und pflegerischen Dienstleistungen, die einkommensabhängig im Rahmen einer Einheitskrankenkasse bezahlt werden, gelöst werden.»

Weitere Forderungen zielen auf die demokratische Mitbestimmung bei der Pharmapolitik und damit verbunden zum Beispiel auf ein staatliches Kaufangebot der Sandoz-Generika-Sparte – und eben Besserstellung von Grundversorgung und Pflege sowie die forcierte Umsetzung der Pflegeinitiative. Die Zeit der gesundheitspolitischen «Pflästerchenpolitik» sei vorbei. «Radikal-pragmatische Lösungen, das Kernmerkmal der AL, sind gefragt», meint David Garcia Nuñez.

Auch über Wohnpolitik in der Stadt Zürich kann man kaum reden, ohne dass die AL irgendwo mitwirkt. Dass die falschen Wohnungen für unsere Wohnbevölkerung gebaut werden, mag von anderen Linksparteien ideologisch mitgetragen werden, aber gerade in der Stadt Zürich stellt man sich ab und an gegen die SP-Grünen-Mehrheiten. So kämpft die AL zum Beispiel im Bereich kommerziell vermieteter Zweitwohnungen gegen die laufende Verdrängung aus der Stadt und bemängelt längst, dass die Instrumente gegen die ausufernde Zahl von Zweitwohnungen in den Städten nicht angewendet würden. Diese Zweitwohnungen gehören heute noch zum Wohnungsbestand – weshalb man sich auch mit Hochbauvorsteher André Odermatt angelegt hat, der Anfang Jahr im Gemeinderat AL-Ideen bezüglich Monitoring von Businessapartment-Anbieter:innen und Plattformwohnungen als nicht umsetzbar erklärt hatte. Das Verdikt der AL: Sabotage während 10 Jahren, Odermatt als Dienstverweigerer, und das Hochbauamt habe die Hände im Schoss, während die Vermieter:innen ihre Rekurssalven nach der BZO-Änderung abfeuern. Auf der anderen Seite ein Stadtrat, der vielleicht gar nicht so unwillig oder -tätig ist – sondern eben jedes mal in dieser Debatte betonte, die Forderungen seien aufgrund von übergeordnetem Recht gar nicht umsetzbar, ein Monitoring nicht zweckmässig, weil ohnehin für Umnutzung ein Gesuch gestellt werden muss. Ob das als Hartnäckigkeit oder als Sturheit zu interpretieren ist – liegt am ehesten beim Stimmvolk. In Bern würde die AL-Wohnpolitik aber wohl ähnlich klingen, wie diejenige von SP-Exponent:innen: Mietzinsdeckel. Das ist aber auch nicht weiter verwunderlich, wenn man die AL als Partei verstehen will, die den linken Parteien als Kritikerin auf die Finger schaut – und nicht als Blockade im Weg steht…

Ein erfolgreiches Rezept?

Die Wohnungspolitik als auch die Gesundheitspolitik wären wohl die potenziellen Zünder für einen unerwarteten Wahlerfolg der Kleinpartei. Ein Vergleich mit Neuenburg zeigt, dass die dort ansässige PdA mit nicht komplett unähnlicher Politik eine Hochburg längst errichten konnte, sodass sie einen festen, wenn auch winzigen Bestandteil der Bundespolitik stellt – in Form von einem Sitz im Nationalrat. Jedoch muss man sagen, dass die Neuenburger PdA auch gleich stark ist wie die dortige SVP und generell stark in der Romandie. Aber: Auch im internationalen Vergleich wäre ein unerwartetes, erfolgreiches Wahlresultat einer linken Kleinpartei dieses Jahr kein Novum. Ein Blick nach Österreich: Hier haben die Kommunist:innen, genauer die KPÖ Salzburg unerwartete 11,7 Prozent der Stimmen bei den Landtagswahlen 2023 geholt – ein Plus von über 11 Prozent und ein landesweites Rekordergebnis. Damit zog sie erstmals seit 1949 wieder in den Landtag ein und besetzt nun vier Sitze. Schon länger sitzt die KPÖ derweil in der Regierung der Steiermark, in deren Hauptstadt Graz stellt sie die Bürgermeisterin. Dass das gelingen kann, hängt (ein wenig vereinfacht gesagt) mit zwei Faktoren zusammen: Einer glaubwürdigen Politik  und dem Vertrauensverlust in die Sozialdemokrat:innen, die in Salzburg rund 3500 Stimmen an die KPÖ verloren. Was hat also die KPÖ mit der AL gemein?

Augenscheinlich ist, dass die beiden Parteien nicht unähnlich politisieren – möglichst nahe an den Bedürfnissen der Menschen. So hat die KPÖ zum Beispiel eigene Anlaufstellen entwickelt, die der lokalen Bevölkerung in finanzieller Breduille ganz konkret, bar auf die Hand sozusagen, helfen. Finanziert wird das über eingerichtete Fonds – fast vollständig aus den Amtsgehältern von Parteifunktionär:innen gespeist (also durch den Überschuss, den die KPÖ ab einer bestimmten Lohngrenze knapp unterhalb des Medianlohns von ihren bezahlten Politiker:innen einkassiert). Auch kostenlosen Rechtsbeistand oder Mieter:innenhilfe bietet die KPÖ denjenigen, die mit Problemen zu ihnen kommen – unabhängig ob Parteimitglied oder nicht.

Nun sieht der Instrumentenkasten bezüglich hands-on-Politik der AL vielleicht etwas anders, wohl auch weniger konkret aus – dennoch ist die gedankliche Verbindung von zum Beispiel AL und Mieter:innenverband nicht umsonst bei Beobachter:innen eine der ersten. Und das liegt auch nicht nur am personifizierten Bindeglied Walter Angst – sondern daran, dass die AL stets im Blick hat, was der Bevölkerung Sorgen bereitet und entsprechend reagiert und mit weiteren Stellen, die die Probleme täglich sehen, vernetzt ist. So zum Beispiel infolge der letzten Mietzinserhöhung: Wer hat da nicht den Rechner des Mieter:innenverbands konsultiert? Und wer wurde nicht durch die AL auf den Rechner aufmerksam gemacht? Dennoch: Von der Konsequenz einer KPÖ ist man noch ein Stück weit weg. Und deshalb träumt man auch bei der AL – und vernetzt sich. Am vergangenen Samstag hat die Partei einen Chrampfer:innen-Zmorge mit dem Grazer KPÖ-Parteisekretär Max Zirngast veranstaltet, der einen Einblick über die internen Prozesse hinter den Wahlerfolgen gab – und damit der AL wohl zu einigen nützlichen Ideen verhalf, wie die Partei ausserparlamentarisch agieren kann, um ein organisches Wachstum von Stimmen zu erreichen und weitere Lokalpräsenz zu markieren. 

Ist ein Überraschungserfolg einer linken Kleinpartei wie im geografischen Osten geschehen also absehbar? Das vielleicht nicht. Aber zugleich wäre es auch das richtige Jahr für eine lokal bekannte, gut vernetzte, auch von anderen Parteien als kompromiss- und arbeitswillige Kraft verstandene und kompetente Kleinpartei, um nach den Sternen zu greifen. Vielleicht, allen Hürden und Steinen im Weg entgegen – zum Beispiel trotz eines gesamtparteilichen Wahlkampfbudgets, das ohne Verbandsspenden auskommt und mit rund 85 000 Franken nichtmal einem Drittel desjenigen von FDP-Posterboy Andri Silberschmidt alleine beträgt – gibt es im Herbst eine Überraschung. Die AL ist an der Listenspitze gut aufgestellt, die Top-Kandidat:innen sind erfahren, überparteilich respektiert und können viel Kompetenz und auch Hartnäckigkeit ausweisen. Überraschend wäre es allemal, sicher aber kein Ding der Unmöglichkeit. Und vielleicht, wenn es dieses Mal nicht reicht – die Schweiz braucht ja bekanntlich immer einige Jahre länger, dass sich (auch politische) Trends festsetzen. Und übrigens: Mit einer Stimme für die AL würden Sie – falls Sie noch unsicher sind, was auf den Zettel kommt – SP und Grünen dank Listenverbindung keine Parteistimmen abgraben.

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