Nach den Bundesratswahlen: Ein kleiner Rückblick auf die Verfassungsgeschichte

Seit fünf Wochen haben wir eine «gesamterneuerte» Regierung. Im internationalen Vergleich war diese Wahl absolut unspektakulär, genauso wie die seit Jahrzehnten fortdauernde Regierungszusammensetzung. Im Gegensatz zu dieser beruhigend langweiligen Konstanz wurden deren Grundlagen vor 175 Jahren in einer äusserst turbulenten Zeit gelegt. Ein Rückblick auf unsere Verfassungsgeschichte regt da und dort zu aktuellen Assoziationen an.

Im konservativ-monarchischen Milieu löst 1848 die Kunde, die Eidgenossen wollten sich eine Verfassung geben, so grosse Bedenken aus, dass die Grossmächte eine militärische Intervention erwägen. Das Gefährliche daran: Diese Verfassung soll demokratisch legitimiert werden, die Mehrheit der erwachsenen Männer bekommt Gelegenheit, ihr zuzustimmen. Das internationale Ansteckungsrisiko ist gross, europaweit rumort der «Völkerfrühling», der Ruf nach Demokratie. Anders als der sich heute von demokratischen Bewegungen bedroht fühlende Putin verzichten die Nachbarstaaten dann aber aufs Intervenieren, sie müssen die revolutionären Umtriebe ihrer eigenen Untertanen im Zaum halten. 

Atemberaubender Verfassungsprozess nach turbulenter Vorgeschichte

1798 war die Alte Eidgenossenschaft unrühmlich zusammengebrochen; die Franzosen diktierten eine Verfassung als «Helvetischer Einheitsstaat». Nach Querelen, Staatsstreichen und Rebellionen in den Kantonen oktruierte Napoleon 1803 einen Staatenbund. Nach Napoleons Sturz 1814 kehrten in den Kantonen die alten elitären Machtstrukturen zurück – nix da von freien Bürgern à la Rütli-Mythos und 1. August-Reden. Ab 1830 entfachen revolutionäre Bewegungen in verschiedenen Kantonen Tumulte, es kommt zu bewaffneten Aufständen gegen die Eliten und zu ebenso gewalttätigen konservativen Reaktionen. Das Zürcher Dialektwort «Putsch» stammt aus dieser Zeit, heute gehört es ins internationale politische Vokabular. 

1845 schliessen sich die katholisch-konservativ regierten Kantone zu einem «Sonderbund» zusammen; finanziell unterstützt von den konservativen Grossmächten Preussen, Österreich und Frankreich schlagen sie am 3. November 1847 militärisch los. Die liberal-radikalen Kantone schlagen zurück, unter dem Kommando des Genfer Generals Henri Dufour, dessen Tagesbefehl vom 5. November an seine Truppe legendäres Vorbild für Bürgerkriege sein sollte:  «Soldaten! Ihr müsst aus diesem Kampf nicht nur siegreich, sondern auch vorwurfsfrei hervorgehen. Die Gefangenen und besonders die Verwundeten verdienen umso mehr Euer Mitleid, als ihr Euch oft mit ihnen in demselben Lager zusammengefunden habt.» Ganz ähnlich heute die Botschaft der Präsidentin des IKRK zum Krieg im Nahosten: «Die Akzeptanz des Leidens der andern ist die erste Voraussetzung für Frieden.» Im Bürgerkrieg von 1847 werden 93 Soldaten getötet, 510 verwundet – das sei wohl der unblutigste Krieg der modernen Geschichte gewesen, sagt der Historiker Christian Koller. Dieser glimpfliche Ausgang des Krieges ist eine wichtige Voraussetzung, die verfeindeten Lager zehn Monate später  in einem gemeinsamen Verfassungsstaat zusammenzuführen.

Das Zeitfenster ist eng, die Grossmächte drohen. Der Verfassungsprozess hat ein atemberaubendes Tempo: Am 17. Februar 1848 tritt die mit einer Stimme Mehrheit  von der Tagsatzung gewählte «Revisionskommission» zusammen, am 8.April liegt der erste Entwurf vor, am 27. Juni verabschiedet die Tagsatzung den bereinigten Entwurf, am 12. September wird dieser nach Volksabstimmungen in den Kantonen –  Zweidrittel von ihnen stimmen zu – definitiv angenommen; am 1. Januar 1849, weniger als 11 Monate nach dem Start, ist die Bundesverfassung in Kraft. Zum Vergleich: Die Totalrevision der Bundesverfassung von 1999 – ohne wesentliche inhaltliche Änderungen – brauchte über dreissig Jahre. 

Verfassung und Nationalstaat

Verfassungen regeln die Organisation der Staatsgewalt – wer ist der Souverän, wie ist er organisiert – und das Verhältnis des Staates zu seinen Bürger:innen. Zu den ältesten Verfassungen gehört jene der USA: Mit «Checks and Balances» definiert sie das Verhältnis zwischen Präsident und Parlament und das umständliche Wahlverfahren, das 2016 den stimmenmässig unterlegenen Trump zum Präsidenten machte. Die «Bill of Rights» regeln die Rechte der Bürger, darunter Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit, aber auch das umstrittene Recht auf Waffe. Die Eidgenossen haben den Amerikanern einiges abgekupfert, zum Glück nicht alles. 

Dass die Obrigkeit nur auf der Basis eines Gesetzes handeln darf entpersonifiziert den Staat: Vom obersten Staatsrepräsentanten bis zum einzelnen Beamten, niemand darf willkürlich entscheiden. Der einstige Bundesrat Tschudi hat das populär formuliert: «Gerechtigkeit braucht Büro». Gleichzeitig mit dieser Konstruktion eines ‹kalten›, aus dem Räderwerk demokratischer Entscheide organisierten Staates wächst im 18. Jahrhundert die Idee, der Staat sei an eine «Nation» zu binden: An ein Volk mit gemeinsamer Abstammung, gemeinsamer Kultur, gemeinsamer Geschichte. Ein ‹warmes› Gebilde, man kann und soll sich mit ihm identifizieren, seinen Staat ‹lieben›. Der Nationalstaat nimmt für sein Volk geografischen Raum in Anspruch, begründet das mit Geschichte, Kultur, Religion, Sprache. Er unterscheidet zwischen seinen «Staatsbürgern» und den Fremden, das demokratische Gleichheitsprinzip gilt im Nationalstaat nicht für alle Einwohner:innen.

Wie sich bald zeigt, birgt dieser «warme» Nationalstaat das Risiko zu überhitzen: Bis heute mutiert das ursprünglich von Kämpfern für die «Selbstbehauptung des Volkes» angefachte Feuer für demokratische Nationalstaaten immer wieder zur unheilvollen Kraft des Nationalismus. Herrscher verstehen es, die nationalistische Begeisterung zur Festigung ihrer Macht zu nutzen. Als die erwachte und sich organisierende Arbeiterbewegung das politische und wirtschaftliche Machtgefüge unter dem Banner des Internationalismus erschüttert, 1871, 1914, 1939, wälzt rund um die Schweiz die von den Eliten aufgeheizte nationalistische Hitze die internationale Solidarität nieder und führt in mörderische Kriege. Die Blutspur des Nationalismus bricht nie ab, sie prägt unsere Gegenwart: Putins Feldzug in die Ukraine, die Gräuel der Hamas, Tod und Zerstörung in Gaza.

Nationalstaaten sind Konstrukte des 19. Jahrhunderts. Im 21. Jahrhundert sind sie nicht mehr in der Lage, die Probleme der Menschheit zu lösen: Klimaerwärmung, Umweltzerstörung, Ungleichheit, Rassismus, Migration, globalisierte Wirtschaft, künstliche Intelligenz… Der israelische Philosoph Omri Böhm sieht im aktuellen grausamen Nahostkonflikt die Lösung nicht in einer Zwei(National-)staatenlösung; er fordert «Radikalen Universalismus – die Republik Haifa», die allen Menschen im gemeinsamen Territorium unabhängig von Herkunft, Sprache, Religion gleiche Rechte zugesteht.

Licht und Schatten der Verfassung von 1848

Zurück zur jungen Eidgenossenschaft: Der 1848 gegründete Bundesstaat muss rasch funktionieren, bevor es doch noch zur Intervention der reaktionären Grossmächte kommt. Nur dank Kompromissen können die konservativen Kantone in die Mitverantwortung für den jungen, von aussen bedrohten Staat eingebunden werden: Das den Amerikanern abgekupferte Zweikammer-
system stellt mit dem Ständerat, in dem jeder Kanton mit gleich vielen Stimmen die Entscheide der Volkskammer umwerfen kann, eine Korrektur dar  zur «Tyrannei» der grossen, damals insbesondere der liberalen Kantone. Zudem wird eine zukünftige Verfassungsänderung ans Ständemehr gebunden. Mit langfristigen Folgen: Heute hat die Stimme einer Appenzellerin von Innerrhoden 48 mal mehr Gewicht auf Bundesebene als die einer Zürcherin. Ein dunkler Schatten auf dem demokratischen Grundsatz: Ein Mensch – eine Stimme. Seit 1866 hat das aus der damals  aktuellen Lage beschlossene Ständemehr dieses fundamentale Prinzip zehnmal verletzt, so zum Beispiel beim Entscheid über die erleichterte Einbürgerung, zuletzt bei der Konzernverantwortungsinitiative: Das Ständemehr hat das Volksmehr blockiert, die «Tyrannei der Minderheit» hat obsiegt. Um das Prinzip Ständemehr zu korrigieren, brauchte es ein Ständemehr….

Ein gutes Licht hat die Verfassung von 1848 hingegen für die Organisation der Regierung der Eidgenossenschaft angezündet. Statt dem Vorschlag für einen «eidgenössischen Landammann», einem Präsidenten, der wie in den USA die Exekutive allein ausübt, haben sich die Verfassungsgeber – wohl auch aus Rücksicht auf die konservative Minderheit – für das aus der Tagsatzung bekannte «Direktorium» von sieben vom Parlament gewählten Männern entschieden: Eine kollegiale Regierung mit sieben Gleichgestellten, die ihre Regierungsfunktion als Einheit wahrnehmen, eingebunden ins Kollegialitätsprinzip, eine weltweit ziemlich einzigartige Regierungsform, immun gegen diktatorische Ambitionen. Hätten die USA, China, Russland, Ungarn eine solche Regelung – und würde diese auch angewendet – die Welt könnte anders aussehen. Als die SVP 2007 mit dem Spruch «SVP wählen – Blocher stärken» Wahlkampf machte, erhielt sie für diesen so völlig unschweizerischen Slogan die Quittung: Blocher wurde abgewählt. Das Bundesratskonstrukt ist in seinen Grundzügen noch immer dasselbe wie 1848. Die wichtigste Weiche für die Gesamterneuerungswahl der sieben Mitglieder des Bundesrats vom 13.Dezember 2023 wurde 1848 gestellt.

Gekürzte und überarbeitete Fassung eines Essay in A-Bulletin 908/ Dezember 23.

 

Quellen:

Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999

Josef Lang: Demokratie in der Schweiz.
Geschichte und Gegenwart. Baden 2020

Omri Boehm: Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität. Berlin 2022

Christian Koller: Vor 175 Jahren: Die Schweiz und das Revolutionsjahr 1848. Sozialarchiv Info 2/2023

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