Mordgeschichte aus Mostindien

Wer den Frühling sowie die schönen Seiten des Thurgau geniessen und nicht an vergangene Schandtaten erinnert werden will, kann erst gegen Ende in diese Politeratour einsteigen: Auch in Mostindien gibt es neue Ansätze ökologischer Landwirtschaft. Zudem wurden damals ein paar alte Obstbaumbestände vor dem «Baummord» bewahrt. Sie werden spätestens im Mai wieder blühen.

 

Hans Steiger

 

Auf den 159. Jahresband des Historischen Vereins des Kantons Thurgau stiess ich dank einer Probenummer der etablierten ‹BauernZeitung›, die eine Seite über den «Baummord»-Report enthielt. «Wie der Agroforst abgeholzt wurde.» Die prägnanten Fotos packten den Blick, zumal der verblüffende Vorher-Nachher-Vergleich mit Flugaufnahmen von 1958 und 2017. Fast nur der Bodensee im Hintergrund liess noch dieselbe Landschaft erkennen. Mit dieser Darstellung der «staatlich organisierten Fällaktionen von Hochstämmern zwischen 1950 und 1975» werde uns «ein interessantes Lehrstück der Schweizer Agrargeschichte» präsentiert, merkt die knappe, relativ trockene Rezension an. Aber etwas Betroffenheit ist spürbar: «Wenn man die Bilder aus heutiger Sicht betrachtet, gerät man automatisch ins Grübeln. Wie konnte man bloss einen solchen Biodiversitätsreichtum mutwillig zerstören?»

 

Biodiversitätsparadies zerstört

Vielfach vertieft wird dieses Grübeln beim Lesen des Buches. Angesichts bedrängender Klima- und Umweltprobleme empfehlen Ökologiefachleute heute nämlich ausgerechnet eine «Agroforstwirtschaft», die der über Jahrhunderte praktizierten Durchmischung von Äckern mit hohen Obstbäumen, Sträuchern, Hecken und Grasflächen gleicht. «Früher hiess das Feldobstbau.» Der hatte besonders im Thurgau die traditionelle Landwirtschaft und so die Landschaft geprägt. «Mostindien» blieb als Etikette, vom «Obstbauparadies» jedoch wenig. Stramm kompakte Niederstamm-Plantagen und weite, hindernisfreie Flächen passten besser zur maschinell agroindustriellen Welt.

 

Die erste politische Weichenstellung war am 6. April 1930 ein klares Ja des noch exklusiv männlichen Stimmvolks zu einem neuen eidgenössischen Alkoholgesetz. Es war vorab steuertechnisch motiviert, wurde aber als Beitrag zur Volksgesundheit propagiert. Auf den Abstimmungsplakaten prangten rotbackige Äpfel und Jungbauern. «Unserer Jugend zum Heil! Unseren Alten zum Wohl! Unserem Obstbau zum Segen!» Anstelle von Mostobst für Saft und Schnäpse sollten edlere Tafeläpfel produziert werden. Doch die «brennlose Obstverwertung» kam dann kaum voran und die vom Bund mit Abnahmegarantien zugesicherten Beiträge gingen ins Geld. Es folgte die Direktive: «Verlustbäume liquidieren.» 

 

«Offensive» gegen «Schmarotzer»

Auch dieser Prozess verlief harzig. Bis im einst als Garten Eden gepriesenen Thurgau nach dem Weltkrieg zwei Männer zusammenspannten, die beim härteren Durchgreifen ihre militärische Prägung in Wort und Tat zeigten. In der historischen Recherche wird Ernst Lüthi als von der Aufgabe geradezu besessener «Obstbaugeneral» porträtiert. Er selbst stellte in publizierten Erinnerungen an sein Wirken fest: «Ohne zu ahnen, welche grossen Widerstände sich unserem Vorhaben einer breiträumigen Generalsanierung entgegenstellen würden, eröffneten wir unsere letzte grosse, nunmehr motorisierte Offensive gegen einen überalterten und strukturmässig nicht mehr tauglichen Baumbestand.» Es galt, die «Schmarotzer» und «Parasiten» auszumerzen.

 

Dass sich Bauernfamilien gegen eine Vernichtung ihrer lange gehegten, teils neu aufgebauten und nun ertragreichen Hochstammkulturen wehrten, andere – von der Radikalität der Fällaktion entsetzt – sogar von «Baummord» sprachen, weckte bei ihm keinerlei Zweifel. Es war eher eine Herausforderung zum massiveren Kampf. Gustav Schmid, sein Partner, wird als «der eiserne Stratege» charakterisiert. Energiegeladen, energisch, sehr direkt sei er gewesen, «ein Zürcher, ein Draufgänger», gab SVP-Ex-Nationalrat Paul Rutishauser zu Protokoll. Methodisch hielt sich der zum Leiter der kantonalen Zentralstelle für Obst- und Rebbau berufene Schmid meist eng an Hans Spreng, den schweizweit für Baumschnitt und Marktsteuerung massgebenden «Obstbaumpapst».

 

Franco Ruault, zuvor als Journalist wie bereits im Studium mit Politikwissenschaft und Geschichte befasst, bezeichnet das hier analysierte Vorhaben als ein «säkularisiertes Missionierungsprojekt». Dies hätten schon die Anleitungen zur Baumpflege gezeigt, wo Erziehung und Zucht zentrale Begriffe waren. «Spreng war ein Meister der Funktionalität und entsprechend war seine Technik.» Einheitlich, zielbewusst und planmässig wie seine Lebensführung. Er lebte nur für die Arbeit, erzählte Peter Spreng, ein Enkel. «Ein Spreng macht das nicht», habe es oft geheissen. Humor und Lachen, «oder einmal traurig sein» – das wurde in der Familie kaum gezeigt. Dafür habe sein Grossvater mit Leidenschaft fotografiert. Obstbäume, tausend, zehntausend, «mit dem observierenden Blick einer Sehmaschine» und immer darum bemüht, das Bestehende, das «Unerzogene» und «Ungeordnete», wie er es nannte, nach seinen Idealvorstellungen umzuformen, zu verbessern. «So –und nicht so!» lautete der Titel einer seiner Broschüren.

 

Baumriesen einfach weggesprengt

Auch diese Umbauvision wird im Buch dokumentiert. Luftaufnahmen im Anhang zeigen das Resultat. Davor dramatische Bilder vom Fällen, vom Fallen, am Stamm zerrende Traktoren, riesige Trümmerfelder und rauchende Reste. Der stolze Trupp mit Motorsägen schaffte es aufs Cover. Aber das gewaltigste Foto findet sich auf Seite 96. «Am Tiefpunkt der Beziehung zwischen Mensch und Baum angelangt: Sprengung eines Obstbaumes, um 1950.» So die Bildlegende. Eindrücklich auch die Berichte der damals noch jungen Beteiligten. Einer schildert, wie Baumriesen mit Plastiksprengstoff zerstört wurden, der «viel stärker als Schwarzpulver» war. «Da ist alles voll zersplittert und weggeflogen, das Holz hast nachher nicht mehr brauchen können.» Das war «wie im Krieg». Der enorme Druck habe bei einem Haus eine Wand herausgeschlagen, Türen weggerissen.

 

Kaum weniger gefährlich war die Arbeit mit Zugseil und Äxten. Und von einem Toten ist die Rede. «Einmal, ich weiss es heute noch als wäre es gestern gewesen, da kamen wir auf einen Hof in Egnach. Da hat der Vater mit dem Sohn einen brutalen Streit gehabt.» Als sie mit dem Fällen fertig waren, so diese Schilderung, «wir waren am Zusammenpacken, da hat man den Vater im Stall gefunden. Er hat sich aufgehängt». Jakob Grob hatte zuvor nie mit jemandem über den Vorfall gesprochen. Ob ihn das Erlebnis nicht belastet habe, fragte der Autor nach. «Wenn man jung ist, sieht man das ganz anders. Im Alter aber ändert sich unser Verhältnis zu den Bäumen.»

 

Immer wieder wurden Junge gegen die Alten ausgespielt. Sie sollten «fortschrittlicher» sein, die rund um den Hof stehenden, unrentablen Bäume seien nur Verkehrshindernisse. Das kam an. Auch bei den Bäuerinnen wurde für diese «Rationalisierungsbestrebungen» geworben. Denn die Frau müsse ihren Mann darin unterstützen, «oder dort, wo ihm der Sinn dafür abgeht, soll sie mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln ansetzen, sie zu verwirklichen», war im ‹Thurgauer Bauer› zu lesen. Schliesslich gehe es beim Obst vor allem um Frauen- und Kinderarbeit. «Für uns Frauen war der Herbst mit der Apfelernte immer eine wahnsinnig strenge Zeit», räumt eine Betroffene ein. Doch nur wenige waren offenbar für die Fällaktion. Doris Keller berichtet von einem wochenlang andauernden Ehekrach zwischen ihren Eltern, der sich um einen über hundertjährigen Mostbirnbaum auf dem elterlichen Anwesen drehte. Er kam dann auch weg. «Wir Frauen hatten ja nicht einmal ein Stimmrecht und zuhause sowieso gar nichts zu sagen.» Mehrfach brachten sie jedoch ihren Unmut zum Ausdruck. Ein berührendes Zeugnis dafür ist das Plakat, welches Franziska Wertbühl (1893–1983) aus Beggetwil an einen ihrer geliebten, nun dem Tod geweihten Bäume hängte. «Niemand aus ihrer Familie hätte es für möglich gehalten, dass sich die betagte und sehr religiöse Frau dagegen auflehnen würde.» Sie dankte für die vielen geschenkten Früchte; der Verlust werde sich «noch manchmal fühlbar machen und die Herzen bedrücken». Oft erfasse sein Glück erst, wer es nicht mehr habe. Unterschrieben war ihre Klage «in Trennungstrauer».

 

Unter den Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, von denen Ruault einige mehrmals traf, gar in Gruppen zu klärenden Gesprächen zusammenbrachte, finden sich auch solche, die dem behördlichen Druck und dem Trend widerstanden. Jakob Niederer, Jahrgang 1941, zeigte ihm in Happerswil einen Bestand mit Hunderten von Hochstammbäumen. Da sei Lüthi im November 1963 – notabene unangemeldet – aufgetaucht, durchmarschiert «und nicht lange darauf hat er gesagt: Willst du nicht gleich alle umtun?». Ihm war gleich klar: «Das mach ich nicht!» Und sein Vater habe wutentbrannt über die «Tübel» gewettert, die nichts Besseres zu tun hätten, als alle Obstbäume fällen zu lassen. «Vielleicht haben wir ihm die richtige Antwort gegeben», merkte Niederer noch an. Jedenfalls ist auch die nächste Generation bei der Obstbaufamilientradition geblieben.

 

Landwirtschaftspolitik – für alle!

Eigentlich wollte ich hier noch ein brandneues ETH-Buch einbeziehen: die von Robert Huber nach einer Vorlesungsreihe verfasste «Einführung in die Schweizer Agrarpolitik». Interessant, doch eher für Leute, die sich institutionell mit dem oft tragisch wechselvollen Seilziehen befassen wollen, das weder ökologisch noch ökonomisch zu Ideallösungen führt. Sowohl der Abschnitt über die «Bedeutung der Volksinitiativen in der Entwicklung der Agrarpolitik» als auch jener zum «Erscheinungsbild der Landwirtschaft in der Schweiz» könnten zu dieser Rückblende passen und zum positiveren Ausblick überleiten. Mehrmals geht es um Multifunktionalität, um Biodiversitätsbeiträge. Aber das kann selbst suchen, wer mag – das Werk ist als Open Access-Angebot für alle frei zugänglich. Gut so!

 

Für mehr Agrikultur im Kleinen

Wer landwirtschaftlichen Alternativen direkter nachspüren will, findet im ‹Agricultura› der Kleinbauern-Vereinigung vierteljährlich frische Impulse. Die den Konsum­aspekt stets einbeziehende Organisation hat ihr Magazin – früher ‹Ökologo› – zum 40-Jahr-Jubiläum umgestaltet und inhaltlich klarer profiliert. Hier werden aktuelle Herausforderungen der Agrar- und Umweltpolitik offen angegangen. In der jüngsten Ausgabe geht der zentrale Text auf den Vegan-Trend ein. Titel: «Es gibt keine unschuldige Ernährung.» Alle müssen essen. Um zu vertretbaren Produktionsarten zu kommen, müssten also alle Beteiligten ihren «eigenen Kompass» finden; «keine Variante kommt ohne ethische und moralische Kompromisse aus». In der «Weniger ist mehr»-Kampagne wird mit Tierschutzverbänden zusammengearbeitet, bei den anstehenden Abstimmungen auf die Weichenstellung an den Urnen gesetzt, nachdem vom Parlament kein akzeptabler Gegenvorschlag kam.

 

Vielleicht exemplarisch für das Bemühen um optimale Wege ist der Ort, wo sich die Vereinsmitglieder am 30. April zur Jahresversammlung treffen: Auf dem Biohof Enderlin im thurgauischen Lengwil werden Obst, Baumnüsse, Getreide und Gemüse kultiviert; eine Mutterkuhherde nutzt das Grasland. Es gibt einen Hofladen, Räume für Feste sowie eine Ferienwohnung für Gäste. «Möglichst nah an der Natur, am Produkt und an den Kunden sein» … Bei der Anmeldung ist Vegi- oder Fleischmenu anzukreuzen.

 

Ein weiteres Ziel könnte bei einem Ausflug ins nahe Mostindien die Obstsortensammlung bei Roggwil sein. Zwar sind «Dreiviertel der einst vorhandenen Obstsorten in den letzten 40 Jahren verschwunden», aber auf einer Fläche von immerhin fünf Hektaren pflanzte und pflegt ein Verein wieder gegen 400 Hochstämmer: Apfel-, Birn-, Zwetschgen-, Pflaumen, Kirsch- und Nussbäume – jeder trägt eine andere Sorte. «Ziel ist es, die Vielfalt auch für nächste Generationen zu erhalten.» Und das wird hochoffiziell von jenem Bundesamt für Landwirtschaft unterstützt, das anno dazumal den Kahlschlag mit vorantrieb … Der neu angelegte Obstgarten steht «allen Interessierten das ganze Jahr» offen. Doch ideal wäre eine Blütenwanderung in den nächsten Wochen, wie sie Thurgau Tourismus empfiehlt. Dort lässt sich via «Bluescht-Telefon» sogar der günstigste Zeitpunkt erfragen.

 

Bei der Gelegenheit wäre auch ein Besuch im Mosterei- und Brennereimuseum Arbon einzuplanen. Mindestens eine gute Stunde. Bereits im Eingangsbereich wird in Kurzform an die lange Zeit völlig verdrängte «Baummord»-Geschichte erinnert, und im Möhl-Saftladen ist die Dokumentation erhältlich. Für mich war sie eins der auf- und anregendsten Sachbücher seit langem.

 

Franco Ruault: «Baummord». Die staatlich organisierten Schweizer Obstbaum-Fällaktionen 1950-1975. Thurgauer Beiträge zur Geschichte, Band 159. Frauenfeld 2021, 160 Seiten, 48 Franken. Auch im Shop des Schweizer Mosterei- und Brennereimuseums Arbon erhältlich.

 

Robert Huber: Einführung in die Schweizer Agrarpolitik. vdf-Hochschulverlag an der ETH, Zürich 2022, 260 Seiten, 42 Franken. Digital kostenfrei im Open Access-­Angebot!

 

Agricultura 01/2022. Magazin der Kleinbauern-Vereinigung. Bern, 20 Seiten. Digital abrufbar bei kleinbauern.ch

 

Obstsortensammlung  / thurgau-bodensee.ch

 

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