Mit Kopfhörern gegen das Vergessen

Die Schweiz besass keine Kolonie – und war trotzdem eng mit dem europäischen Kolonialismus verbunden. Der Verein Zürich Kolonial hat Spuren der Zürcher Kolonialgeschichte zusammengetragen.

 

Nach Ende der Vorlesungen strömen StudentInnen die serpentinenartige Gloriastrasse hinunter. Auf dem Weg zum Hauptgebäude queren sie ein Hochhaus an der Plattenstrasse 10. Niemand beachtet den grauen hochgeschossenen Betonklotz. Wieso auch? Auf den ersten Blick erinnert hier nichts an die Geschichte, die sich einst dort abgespielt hat. Auch auf den zweiten Blick nicht. Erst mit Kopfhörern über den Ohren erfährt man, dass hier einst der Gasthof Plattengarten rassistische Völkerschauen durchgeführt hat, also die Ausstellung von als «exotisch» eingestuften Menschen. Einst wurden hier elf Mitglieder der Kawesqar aus dem südlichen Teil des chilenischen Patagoniens gegen ihren Willen vorgeführt; fünf von ihnen starben in Zürich an den gefangenenähnlichen Bedingungen. Szenenwechsel, Neumarkt. Das Geburtshaus von Gottfried Keller liegt etwas versteckt, an der Hausfassade hängt eine Fahne des feministischen Streiks. Eine Familie zankt sich im Hauseingang, während die Stimme in den Kopfhörern erklärt, wie Keller in seiner Novelle «Pankraz der Schmoller» das Leben von Söldnern in den Kolonien beschönigte und die grausamen Taten von Zürcher Kolonialsoldaten verklärte. Dabei mischte die Schweiz für ihre Grössenverhältnisse im grossen Stil bei der Versklavung von Menschen mit: Wie man vor dem Rathaus am Limmatquai erfährt, waren SchweizerInnen gemäss aktueller Forschung an der Versklavung von etwa 172 000 Menschen beteiligt.

 

Bildungsarbeit

Hörbar macht diese Geschichte der Verein Zürich Kolonial. Am Anfang des Projekts stand ein Artikel im Sommer 2019 über die Verstrickungen der Stadt Zürich mit dem Kolonialismus im Stadtmagazin Tsüri.ch von Mitgründerin Monique Ligtenberg. Und da es in Zürich im Gegensatz zu anderen Städten noch keine Stadttour über diesen Aspekt der Stadtgeschichte gab, gründete sich nur wenige Monate später der Verein. Die vier Gründungsmitglieder kennen sich alle aus dem Studiengang Geschichte und Philosophie des Wissens und haben ihre Masterarbeit alle zu einem Aspekt der Kolonialgeschichte geschrieben. «Was wir auf der Stadttour präsentieren, sind keine neuen Informationen. Allerdings war das Wissen bisher fast ausschliesslich in Insiderkreisen verbreitet», sagt Ligtenberg. Mit dem Stadtrundgang möchte der Verein dieses Wissen einer breiten Bevölkerung zugänglich machen. «Unser Ziel ist die Bildungsarbeit, vor allem auch für ein jüngeres Publikum», ergänzt Charlotte Hoes. Einige Schulen hätten sich bereits bei ihnen gemeldet und Interesse an den Texten gezeigt, um diese im Rahmen einer Projektwoche zu nutzen. «Uns ist aber bewusst, dass die Texte manchmal noch ein wenig voraussetzungsreich sind. Daran arbeiten wir.» Bisher hat der Verein in Kooperation mit der Anny-Klawa-Morf-Stiftung zwei Stadtrundgänge organisiert. Da die Vereinsmitglieder alle ehrenamtlich im Verein arbeiten, würden sie aktuell abklären, wie sie weitere Rundgänge finanzieren können, erklärt Stephanie Willi. «Das Interesse ist jedenfalls gross, die ersten beiden waren jeweils nach kurzer Zeit ausgebucht.» In der Zwischenzeit können sich Interessierte auf eigene Faust auf die Stadttour begeben: Auf der Homepage findet sich eine Karte und ein Audioguide, der von einer Station der Zürcher Kolonialgeschichte zur nächsten führt.

 

Noch lange nicht fertig

Die Stadtrundgänge sind Teil einer grösseren Auseinandersetzung der Stadt Zürich mit ihren Verstrickungen mit dem europäischen Kolonialismus. Das Kollektiv «Vo Da» hat in der Vergangenheit wiederholt auf die Umbenennung von rassistischen Häusernamen und der Entfernung von diskriminierenden Abbildungen im Niederdorf gedrängt. Als Reaktion darauf setzt der Stadtrat im Juli 2020 die Projektgruppe Rassismus im öffentlichen Raum ein. Diese legte Anfang Jahr einen Bericht vor, der dem Stadtrat neben der Entfernung von offensichtlich rassistischen Inschriften an städtischen Liegenschaften wie dem Neumarkt 13 auch die Erstellung einer öffentlich zugänglichen Dokumentation kolonialer Spuren im Stadtraum empfiehlt. Als Beispiel wird der Stadtrundgang von Zürich Kolonial erwähnt. Der Verein sei in Gesprächen mit der Stadt, meint Stephanie Willi dazu. «Eine konkrete Kooperation liegt aber noch nicht vor.» Aktuell finanziert sich der Verein über Stiftungsgelder, Freiwilligenarbeit und einem Förderbeitrag der Integrationsstelle der Stadt Zürich, der aber nicht im Zusammenhang mit dem erwähnten Bericht steht. Ist die Kolonialgeschichte von Zürich mit dem 17 Stationen, die momentan auf der Homepage aufgeschaltet sind, erzählt? «Nein, sie ist noch lange nicht erschöpft», sagt Ligtenberg zum Schluss. Sie sei immer wieder selbst überrascht, wo sie überall noch subtile Spuren der kolonialen Verwicklungen von Zürich findet.

 

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