Mit Atomgeschwätz Solarenergie ausbremsen

Beim Lesen der NZZ stosse ich immer öfter auf das Wort «Kernkraft». Im Artikel «Ohne Kernkraft droht eine Stromlücke» vom Montag geht es um eine Studie der ETH Zürich. In Auftrag gegeben und finanziert hat die Studie die Economiesuisse, die sie am Dienstag auf ihrer Webseite vorstellte, samt Link zu einer ausführlichen Zusammenfassung. Gemäss NZZ will die Economiesuisse mit dieser Studie «zur Versachlichung der Debatte über die Energiepolitik beitragen, die hierzulande nach wie vor von viel Ideologie und implizierten Denkverboten geprägt ist». Am Mittwoch doppelte die NZZ mit einem Kommentar nach: «Plötzlich läuft alles auf die Atomkraft hinaus.»

Rückblick: Am 21. Mai 2017 sprachen sich 58,2 Prozent der Abstimmenden für das revidierte Energiegesetz aus. Es soll dazu dienen, den Energieverbrauch zu senken, die Energieeffizienz zu erhöhen und die erneuerbaren Energien zu fördern. Zudem enthält es das Verbot, neue Atomkraftwerke zu bauen. Diese erste Tranche der Umsetzung der Energiestrategie 2050 trat zusammen mit den entsprechenden Verordnungen auf Anfang 2018 in Kraft.

Am vergangenen 18. Juni kam das «Bundesgesetz vom 30.09.2022 über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit» an der Urne durch, mit einem Ja-Stimmenanteil von 59,1 Prozent. Am selben Tag war auf NZZ Online zu lesen, «Exponenten von SVP und FDP fordern nach Ja zum Klimaschutz neue Atomkraftwerke». Mit dem Umstieg auf Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge steige der Strombedarf in der Schweiz. Dieser könne nur mit neuen Kernkraftwerken gedeckt werden. Immerhin steht in einem Nebensatz, dafür müsste allerdings das Kernenergiegesetz geändert werden: «Um den Weg für neue Kernkraftwerke zu ebnen, müsste das Parlament auch das Neubauverbot aus dem Gesetz kippen.» Ach, so macht man das: Die Bürgerlichen kippen mal eben ein erst 2017 angenommenes Gesetz, und schon läuft alles wieder so, wie sie es schon immer haben wollten?

Ganz so einfach scheint es doch nicht zu sein, und das ist wohl einer der Gründe für die vielen Medienbeiträge, unterdessen längst nicht mehr nur in der NZZ: Immer dann, wenn das «tumbe Volk» ausnahmsweise nicht der bürgerlichen Mehrheit folgt, die hierzulande bekanntlich seit 1848 durchregiert, muss es mit sanftem oder auch gröberem Druck weichgeklopft werden, bis es zur Vernunft kommt. Erst war auf allen Kanälen zu lesen, die Energiestrategie sei gescheitert, dann startete die SVP im Kanton Zürich ihren Kampf gegen die Windräder, die angeblich kaum Strom liefern, und nun droht mal wieder eine «Stromlücke». Sie ist eine alte Bekannte: Kreiert haben sie vor vielen Jahren PR-Leute der Elektrizitätswirtschaft (siehe P.S. vom 18. Februar 2022). Ihre Botschaft, damals wie heute: Die wachsende Nachfrage nach Elek-trizität lasse sich mit dem heutigen Angebot nicht mehr decken.

Und damit zurück zur eingangs erwähnten Studie: Die NZZ schreibt, diese prognostiziere, «dass die im Gesetz verankerten Ausbauziele mit der gegenwärtigen Politik deutlich verfehlt» würden. Die Wissenschaftler gingen davon aus, «dass die Sonnen- und Windkraft im Jahr 2035 gut 30 Prozent weniger liefern werden als von der Politik veranschlagt. Und auch für das Jahr 2050 wird das Ausbauziel knapp verfehlt.» Nun sind Prognosen bekanntlich schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen: Alte AKW laufen lassen, bis sie 60 bis 80 Jahre alt sind, und zusätzlich neue bauen – ob das dann auch funktioniert und sich rechnet?

Gemäss der Studie lassen sich die Kosten zur Deckung des Strombedarfs stark senken, wenn die AKW länger laufen. Welch‘ ‹neue› Erkenntnis! Weiter stellt der NZZ-Artikel zur Studie in den Raum, dass AKW künftig wohl wegen des Ausbaus der Photovoltaik nicht mehr rund um die Uhr laufen können. Denn «insbesondere im Sommer» seien die Exportmöglichkeiten gering: «Fraglich ist indes, ob die bestehenden Kernkraftwerke unter diesen Voraussetzungen noch rentabel betrieben werden können – oder eine zusätzliche Förderung nötig würde.» Aha. Subventionen für AKW statt für Erneuerbare, daher weht der Wind… So oder so: Economiesuisse-Präsident Christoph Mäder komme, heisst es weiter, «zum Schluss, dass neue Kernkraftwerke nun konkret geplant werden sollten». Wobei: Vielleicht sollte man das tatsächlich machen – und sich ‹in echt› davon überzeugen, dass es keinen Widerstand gibt und alle Anwohner:innen Beifall klatschen…

Was die NZZ nicht schreibt: Ganz am Schluss der Zusammenfassung der Studie findet sich folgender Abschnitt: «Es muss beachtet werden, dass sich die Szenarien ausschliesslich auf die technisch-wirtschaftliche Darstellung von Kernkraftwerken beziehen. Andere Aspekte wie das Risiko nuklearer Katastrophen, die Endlagerung nuklearer Abfälle, die Abhängigkeit von Uranimporten oder die Unwägbarkeiten bei den Baukosten und der Dauer der Planung und des Baus eines neuen Kraftwerks werden nicht berücksichtigt.» 

Am Dienstag verschickten die Grünen Kanton Zürich eine Medienmitteilung zum ersten Jahrestag der Planung eines Tiefenlagers in Stadel, in der sie auch einen verbindlichen Plan zum Ausstieg aus der Atomenergie fordern. Dass ohne sichere Entsorgung des Atommülls kein längerfristiger Betrieb von AKW mehr möglich ist, sollte eigentlich allen klar sein. Von einer solchen aber sind wir in der Schweiz schätzungsweise Jahrzehnte entfernt.

Ebenfalls nicht an die grosse Glocke gehängt wird, dass uns ausgerechnet die SVP mit ihren Atomplänen offensichtlich in die totale Abhängigkeit vom Ausland treiben will. Vielleicht müsste man das vor den Wahlen noch ein bisschen he-rumerzählen. Und à propos Uranimporte: Im ‹Tages-Anzeiger› vom Montag war dazu ein Artikel zu lesen mit dem Titel «Axpo bleibt bis 2030 von Uran aus Russland abhängig». Der Stromkonzern wolle vom russischen Brennstoff wegkommen, die Gespräche mit neuen Lieferanten seien weit fortgeschritten. Bestehende Verträge jedoch wolle die Axpo nicht auflösen. Weiter heisst es, dass Frankreich in der EU in der Kritik stehe, weil dessen Atomindustrie mit der russischen Seite geschäfte.

Was im ‹Tages-Anzeiger› nicht steht: Die Axpo und ihre Partner haben einen Vertrag mit Electricité de France (EDF) bis 2039 verlängert und beziehen somit ab 2025 65,7 Megawatt «CO₂-freie Kernenergie» (siehe P.S. vom 30. Juni 2023). Damit leisteten die Axpo und ihre Partner «weiterhin einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit in der Schweiz», erklärte Axpo-Sprecher Noël Graber damals auf Anfrage. Gut möglich, dass wir via solche Axpo-Beteiligungen weit länger als bis 2030 von Uran aus Russland abhängig sind – und damit auch Russlands Krieg gegen die Ukraine mitfinanzieren.

«Plötzlich läuft alles auf die Atomkraft hi-naus»: Tut es das wirklich? Oder geht es vielmehr darum, den demokratisch beschlossenen Ausbau von Photovoltaik und Windanlagen zu untergraben?

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