«Mehr Repression führt nicht automatisch zu mehr Sicherheit» 

 Über Zürichs Problem mit linksextremer Gewalt, über das Dilemma der Polizei bei unbewilligten Demonstrationen und über das Verbot von Gummischrot spricht Grundrechtsanwalt Viktor Györffy im Interview mit Simon Jacoby.

Herr Györffy, hat Zürich ein Problem mit linksextremer Gewalt?

Viktor Györffy: Gewalt gibt es, darunter auch solche, welche von der linksextremen Ecke ausgeht. Generalisieren bringt jedoch meistens nichts, man muss immer die einzelnen Akteure und deren Motivation anschauen. Dabei bringt es nichts, pauschal vom «Schwarzen Block» zu sprechen. In der linksautonomen Szene sind verschiedene Gruppen aktiv – es gibt keine zentrale Gruppe von wenigen Menschen, die die Fäden ziehen. Und es ist auch mit Trittbrettfahrer:innen zu rechnen.

Bei Demonstrationen eskaliert immer wieder die Gewalt. Sollte es nicht auch friedlich möglich sein?

Historisch gesehen ist festzustellen, dass Militanz bei politischen Bewegungen eine eminente Bedeutung haben kann. Das heisst umgekehrt nicht, dass Militanz oder Gewaltausübung im konkreten Fall automatisch als legitim erscheint. Gewaltausübung kann die politische Botschaft überschatten bis hin zur Frage, ob überhaupt eine politische Botschaft vorhanden ist. Man muss aber auch sehen, dass es verschiedene Formen der politischen Militanz gibt. Die Klimabewegung ist teilweise auch militant, aber jeweils ohne Gewalt. Dies ist nicht nur darum einfacher zu verstehen, sondern auch, weil klare Konzepte und Forderungen zu erkennen sind. Diese kann man dann gut finden oder nicht. Wenn in einer politischen Aktion Frust und Dringlichkeit zum Ausdruck kommen, ist dies für mich in der Regel durchaus nachvollziehbar.

Wie meinen Sie das? 

Junge Menschen sehen sich damit konfrontiert, dass es immer weniger Freiräume gibt in der Stadt Zürich – alles wird zugebaut und weiter kommerzialisiert. So verschwinden besetzte Areale, was unter anderem auch Auswirkungen auf das Kulturleben, alternative Wohn- und Arbeitsformen und die politische Betätigung hat. Ich bin überzeugt, dass diese Entwicklung auch die Mehrheit von Stadt- und Gemeinderat nicht gut findet – aber wirksam gestoppt wird sie nicht. Dieser zunehmende Druck führt zu Unzufriedenheit, man fühlt sich marginalisiert und will sich bemerkbar machen. 

Somit finden Sie es richtig, dass bei Demons­trationen Polizist:innen verletzt werden und Schaufenster kaputt gehen?

Das will ich damit nicht sagen. Bei solchen Ereignissen ist für mich nicht erkennbar, dass die Beteiligten die Verantwortung, sich selbst Grenzen zu setzen, wahrgenommen hätten. Wenn es eskaliert, stellt sich aber jeweils die Frage, wie die Dynamik im konkreten Fall war, inwieweit die Personen auf der Strasse dazu beigetragen haben und inwieweit die Polizei diese angeheizt hat. Festzuhalten ist auch, dass das Recht, sich friedlich zu besammeln, auch für unbewilligte Demonstrationen gilt. Wichtig ist: Autonomes politisches Handeln beinhaltet Selbstverantwortung und kann nicht einfach mit beliebiger Selbstermächtigung gleichgesetzt werden. 

Das heisst konkret?

Es gibt viele Leute, die sich auch bei militanten Aktionen viel überlegen. Umgekehrt scheint es mir müssig, nach einer Legitimität zu suchen, wenn eine Person bei solchen Demonstrationen einfach zufällig gewählte Schaufenster einschlägt, ohne sich Gedanken zu machen, wen es trifft und was es letztlich für das politische Anliegen bringt. 

Die Polizei und auch die zuständige Stadträtin Karin Rykart wurden zum wiederholten Mal von der Gewalttätigkeit überrascht. Kann das sein?

Ja, das glaube ich schon. Weil, was genau passiert, ist ja auch immer eine Frage der konkreten Dynamik, zu der wie gesagt auch die Polizei beitragen kann. Manchmal lässt sich durch stärkere Repression eine Eskalation verhindern oder eindämmen, manchmal löst sie das Gegenteil aus. Dabei spielt auch eine Rolle, wie viele Polizist:innen mit welcher Ausrüstung im Einsatz sind und wie das Einsatzsdispositiv aussieht. Insgesamt ist oft nicht einfach abzuschätzen, was passieren wird. 

Die Polizei könnte aber die Demonstrierenden sofort einkesseln und an einem Umzug hindern. 

Es ist rechtsstaatlich nicht vertretbar, dass unbewilligte Demonstrationen durchwegs abgewürgt werden. Oft ist das Gewaltrisiko im Voraus schwer abzuschätzen. Wenn die überwiegende Mehrheit der Anwesenden friedlich demonstrieren will, hat sie Anspruch auf Schutz der Demonstrationsfreiheit. Der Vorwurf an die Polizei und die Stadträtin, sie seien überrascht worden, führt nirgendwohin.

Dann ist die Polizei in einem Dilemma: Entweder reagiert die Polizei zu früh und zu fest, oder sie reagiert zu spät?

Ja, dieses Dilemma ist oft vorhanden und damit müssen die Polizei, die Vorsteherin und letztlich auch die ganze Stadt Zürich leben. Es gibt keine einfache Lösung. 

Die Polizei hatte am 1. April keine Ahnung, dass eine Demonstration stattfinden wird. Ich finde das überraschend.

Nein, das kann ich mir schon vorstellen, die Szenen, die immer mal wieder unbewilligte Demonstrationen organisieren, sind viel zu heterogen, um durchwegs einschätzen zu können, wann was passieren wird.

Wieso werden keine Telefone abgehört oder Chats mitgelesen?

Erstens würde dies nicht viel bringen, weil autonome Kreise nicht hierarchisch aufgebaut sind und es somit kein kleines Grüppchen gibt, auf das sich die Überwachung konzentrieren könnte. Zweitens sind solche Aktionen rechtlich nicht zulässig. Eine strafbare Handlung liegt noch nicht vor, und die Polizei und der Nachrichtendienst haben hier richtigerweise nur ein sehr begrenztes Instrumentarium, sonst kippt es in Gesinnungsschnüffelei. Die Geschichte zeigt, dass gerade der Nachrichtendienst immer viel zu viel gesammelt hat, auch über politische Tätigkeiten, dies, obschon ihm das Beschaffen und Bearbeiten von Informationen über die politische Betätigung und über die Ausübung von politischen Grundrechten untersagt ist.

Unbeteiligte bleiben trotzdem nicht immer verschont, beispielsweise wenn die Polizei grossflächig Personengruppen einkesselt. 

Das ist tatsächlich ein Problem, weil dann oft viele Menschen betroffen sind, von denen keine Gewalt ausgeht. Bei einem Demonstrationszug sind meist nur sehr wenige gewaltbereit, im Kessel landen aber alle – präventiv, also bevor überhaupt etwas passiert. Es kommt natürlich auch darauf an, wie lange der Kessel besteht und wann und unter welchen Umständen man wieder rauskommt. Wenn es einen genügenden Grund für den Kessel gibt, dieser nur kurz besteht und die Leute selber wieder gehen können, wird es rechtlich in Ordnung sein. Je nach Dauer des Kessels kann aber eine Freiheitsentziehung vorliegen, und diese wird nicht zu rechtfertigen sein.

Was wäre denn ein geeignetes Mittel, um die Gewaltbereiten zu isolieren?

Das ist eine Frage, die schwerlich pauschal zu beantworten ist. Es hängt von der konkreten Situation ab. Die Polizei wird diese beobachten und muss sich aufgrund ihrer Lageeinschätzung entscheiden, wie sie vorgeht. Unter gewissen Voraussetzungen darf sie auch Aufnahmen anfertigen. Klar ist, dass die Polizist:innen im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen handeln und beim Einsatz ihrer Mittel den Grundsatz der Verhältnismässigkeit beachten müssen, was in der Praxis oft nicht gewährleistet ist. 

Darf die Polizei auch mit Gesichtserkennungssoftware arbeiten und so später Leute büssen, die gar nie kontrolliert worden sind?

Für den Einsatz von Gesichtserkennungssoftware gibt es keine gesetzliche Grundlage, und die Stadt Zürich hat richtigerweise sogar ein Verbot beschlossen, solche einzusetzen. Aufnahmen von Personen anzufertigen, die an Demonstrationen teilnehmen, ist wie gesagt unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Die Verwendung solcher Aufnahmen zur Verfolgung von Straftaten nach dem Strafgesetzbuch kann gerechtfertigt sein. Nicht zulässig ist es meiner Meinung nach, das Bildmaterial zu nutzen, um im Nachhinein Leute zu finden, die nur an der Demonstration teilgenommen haben. Die Praxis, Bussen wegen Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration zu verteilen, hat aus meiner Sicht keine genügende gesetzliche Grundlage und verstösst gegen die Demonstrationsfreiheit. Es ist jedenfalls richtig, dass der Gemeinderat dies ändern und auch die Bewilligungspflicht für Demonstrationen abschaffen will. 

Im Gegensatz zu anderen Ländern sind in der Schweiz Gummigeschosse nicht verboten. Warum?

Das ist eine gute Frage. Ich finde, man müsste Gummigeschosse verbieten – es sind harte, kantige Dinger, die da verschossen werden. Ein Pro­blem ist auch, dass die Richtlinien für einen Einsatz von Gummigeschossen oft nicht eingehalten werden. Eigentlich halten die Richtlinien fest, dass nur mit einem bestimmten Abstand geschossen und dass – wenn überhaupt – nur auf bestimmte Körperregionen gezielt werden darf. Doch in der Realität werden die Richtlinien oft nicht eingehalten, und es kommt immer wieder zu schweren Verletzungen. Der Einsatz von Gummigeschossen und anderen Mitteln wie Schusswaffen und Tasern ist Ausfluss des staatlichen Gewaltmonopols und der polizeilichen Gefahrenabwehr, welche die Polizei auch mit derartigen Mitteln ausüben können soll. Der Einsatz von Gummigeschossen soll abschreckend sein und durchaus derart weh tun, dass es bei den Getroffenen etwas auslöst. 

Was ist denn die Alternative zu Gummigeschossen?

In anderen Ländern sieht man zum Beispiel viel häufiger Bilder von knüppelnden Polizist:innen, was bei uns selten vorkommt. Ein Verbot von Gummigeschossen alleine löst das Problem, wie die Polizei in bestimmten Situationen vorgehen darf und soll, noch nicht. Man müsste eine breite Diskussion führen, was die Polizei anstelle des Einsatzes von Gummigeschossen tun soll. 

Weg vom Gummischrot, hin zum Geld. Die SVP würde am liebsten mit der Anti-Chaoten-Initiative die Kosten von Polizeieinsätzen auf die Demonstrierenden abwälzen. 

Diese Initiative ist als generelle Abschreckung gedacht und schiesst ganz bewusst übers Ziel hi­naus. Wie gesagt sind auch unbewilligte Demonstrationen vom Anspruch, sich friedlich zu versammeln, geschützt. Darum darf es keine solche Breitbandabschreckung geben. Ich bin überzeugt, es würde insoweit funktionieren, als der sogenannte chilling-effect eintreten und Menschen von der Organisation einer Demonstration und je nachdem auch von der Teilnahme abhalten würde. Es könnte aber auch gegenteilige Wirkungen haben: Wer unter diesen Umständen eine Demon­stration lancieren möchte, würde dies dann tendenziell anonym und ohne klare Absender:innen und festgelegte Demoorganisation tun. Dies wiederum könnte dazu führen, dass die Demonstration weniger geordnet verläuft und eher eskaliert. Die Forderung der SVP ist damit weder grundrechtskonform noch zielführend. 

Zum Schluss: Die Polizei fordert mehr Personal, der Gemeinderat hat die Hälfte davon bewilligt. Nützt mehr Repression gegen linksextreme Gewalt?

Wenn man alle Forderungen nimmt, die an die Polizei gestellt werden, muss man feststellen, dass sie zu wenig Personal hat. Aber die Frage ist auch, wo aufgestockt werden und was das neue Personal konkret machen soll. Sicher ist, dass mehr Repression nicht automatisch zu weniger Gewalt führt – die Dynamik ist komplexer.

Symptombekämpfung, statt nach den Ursachen zu suchen?

Die polizeiliche Tätigkeit ist nur eine Ebene. Mit polizeilicher Repression alleine werden sich jedenfalls keine Probleme lösen lassen. Bei Demonstrationen muss man sich auch generell die Frage stellen, was die Gründe dafür sind, dass die Menschen auf die Strasse gehen. Hier manifestiert sich politischer Druck, etwa, weil die Freiräume schwinden, sich die Klimakrise zuspitzt, Frauen mit Diskriminierungen und Belästigungen konfrontiert sind und wir nach wie vor Rassismus in unserer Gesellschaft haben. 

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