Was die Häuserbewegung zur Stadtentwicklung beiträgt

Niemand kann nicht wohnen. In Zeiten der Wohnungsnot günstigen Wohnraum leer stehen zu lassen, günstige Wohnungen abzureissen, um dank Ersatzbauten mehr Rendite herauszu­holen, empört. Auf Wohnungssuche machen aber die meisten die Faust im Sack. Eine Minderheit handelt: besetzt Häuser, demonstriert gegen Wohnungsnot.

Die Wohnungsfrage gehört zu den klassischen Widersprüchen im Kapitalismus: Der Markt soll es richten, er versorgt die Gutbetuchten, die andern drängt er zur Stadt hinaus.  Das hat Friedrich Engels 1845 analysiert, das haben um 1900 Sozialdemokraten zur Kampfzone erklärt. Ihr Konzept: Mieter:innen schliessen sich zusammen, organisieren sich als Genossenschaft und kaufen Boden und Häuser. Pioniere wie Paul Pflüger oder Dora Staudinger sahen in diesem Lösungsansatz eine «schrittweise Überwindung des Kapitalismus», ohne Revolution.  Der Anarchist und spätere Kommunist Hans Itschner versuchte es revolutionär: Mietzinsstreik, militante Weigerung, gekündigte Wohnungen zu verlassen.  Er scheitert, Zürich wird zur Stadt der Genossenschaften. In den Nachkriegsjahren sinkt die Brisanz der Frage, Wohnen in der Stadt verliert an Attraktion.

Die erste Hausbesetzung in Zürich

Das ändert um 1970: Am 1. April 1971 werden erstmals Häuser besetzt, am Tessinerplatz. Ein Flugblatt erklärt den verduzten Bürger:innen: «Die Mietbedingungen kommen einer ständigen Erpressung gleich, gegen die es erst einen Schutz geben wird, wenn die Mieter die Herausforderung nicht mehr schweigend hinnehmen.» Weitere Hausbesetzungen folgen, 1973 kommt es zur ersten Grossbesetzung am Hegibachplatz. Je grösser die Besetzung, desto mehr geht es nicht nur um günstigen Wohnraum sondern auch um selbstbestimmte Lebensformen. Da haben die Genossenschaften mit ihren altbackenen Genossenschaftsfeiern und sterilen Kolonielokalen nicht viel zu bieten. 

Trotz den repressiven Abwehrmassnahmen nehmen die Hausbesetzungen zu, besonders ab 1980. 1989 gibt der (bürgerliche) Stadtrat seinen harten Kurs auf. Nun gilt: Ohne gültige Bau-/Umbaubewilligung werden keine Häuser mehr geräumt. 1991 startet die bis dahin grösste Hausbesetzung der Schweiz an prominenter Lage: Wohlgroth. Während 30 Monaten entsteht hier ein eindrückliches politisches, soziales und kulturelles Projekt mit Ausstrahlung: Ein selbstgestalteter Lebensraum, ein autonom geführter Raum für Drogenkonsumierende, Konzerte, Diskussionen. 

Die Wiederentdeckung der Genossenschaften

Im besetzten Haus leben heisst wohnen auf Zeit, ob zwei Monate oder zehn Jahre: Solange der Kapitalismus nicht überwunden ist, wird eines Tages eine Abbruch-/Umbaubewilligung zum freiwilligen Auszug oder zur Räumung führen. Das fremdbestimmte Nomadenleben ist auf die Länge nicht allen bekömmlich. Da entsinnen sich einige an die zwar verschlafene, aber erfolgreiche Genossenschaftsbewegung. Aber nicht so leben wie die mit ihrem Mittagsruh-  und Waschküchenterror. Genossenschaft ist eine Rechtsform, die einem Kollektiv viel Selbstbestimmung gewährt. Leben wie im besetzten Haus, aber auf Dauer. Verlangt eine stabile Organisation, Verhandlungsbereitschaft, Mittelbeschaffung. Über die Ausgestaltung seiner Zusammenlebens- und Kulturformen kann das Kollektiv selber bestimmen.

So kommt es, dass heute die innovativsten Wohnbauprojekte – Kraftwerk, Kalkbreite, Zollhaus – auf den kämpferischen Erfahrungen von Aktivist:innen der Häuserbewegung aufgebaut wurden. Altehrwürdige Genossenschaften haben sich den neuen Erkenntnissen angeschlossen. Die neu belebte Genossenschaftsbewegung geniesst die Sympathie der Mehrheit der Zürcher:innen. Trotz allen Drohungen vor Scherbenhaufen wurde die Noigass-Vorlage als Kampf gegen die Krake kapitalistischer Wohnungsbau angenommen, irgendwann muss die SBB nachgeben.

Wohnungsnot bekämpfen ist mehrheitsfähig

Hausbesetzungen gehören längst zum Zürcher Alltag. Eine Mehrheit würde wohl dem abgeänderten Brecht-Zitat zustimmen: Was ist schon eine Hausbesetzung gegen Leerlassen und Abbruch von Wohnraum. Dafür würden viele auf die Strasse gehen. Allerdings nur, wenn Forderungen und Analysen zur Wohnungsfrage klar sind – und nicht, wenn einige Wutentbrannte kommentarlos ausziehen und Polizisten zusammenschlagen. Die Wut, aus einem zur Heimat gewordenen besetzten Haus rausgeschmissen zu werden, ist völlig verständlich, aber sie so rauszulassen ist keine politische Aktion, weder wird so die Wohnungsnot bekämpft noch der Kapitalismus überwunden.

Trotz dem neuen Wind in der Zürcher Genossenschaftsbewegung: Zürich braucht die Häuserbewegung. Wie schnell schläft das politische Bewusstsein in wohlgeordneten Institutionen ein, überwuchert Bürokatie die Basisbewegung. Besetzte Häuser sind laute Mahner, die zeigen: Kapitalismus liegt falsch. Recht auf Wohnen muss vor Recht auf Spekulation gehen. 

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