Care-Arbeit ins Zentrum stellen

Barbara Zibell ist Raumplanerin und pensionierte Professorin für Planungs- und Architektursoziologie. Im Gespräch mit Sergio Scagliola erklärt sie, wieso wir Care-Arbeit als Ausgangspunkt in der Stadt- und Regionalplanung verstehen sollten. Wieso Raumplanung nicht feministisch denken?

Zur Einordnung: Was ist feministische Raumplanung? 

Barbara Zibell: Das ist eine einfache und schwierige Frage zugleich. Es gibt nicht ‹die› feministische Raumplanung, sondern lediglich feministische Perspektiven und Positionen, die sich in Architektur und Raumplanung widerspiegeln. Diese Perspektiven kamen im Zuge der zweiten Frauenbewegung auch in den Hochschulen an, heute trägt die jüngere Generation diese Themen anders, intersektionaler weiter. Für mich war und ist die Frage am Anfang die nach der Arbeit. Was ist Arbeit? Was wird in der räumlichen Planung als solche rezipiert? Ist Arbeit nur Arbeit, wenn sie bezahlt wird? Als ich anfing zu studieren, dachte man in der Stadtplanung in den Kategorien Wohnen, Arbeiten, Erholen und Bewegen. Versorgen kam nicht vor, denn das war traditionell die Aufgabe der Frau. Seitdem sind feministische Perspektiven in Planungspolitik sowie Planungspraxis zwar angekommen, werden bisher aber nicht unbedingt standardmässig beachtet. In der Planungsgesetzgebung wie bei Planungsinstrumenten, den Planungsfachstellen in Gemeinden und Kantonen finden feministische Perspektiven kaum Platz.

Das heisst, die Umsetzung feministischer Per­spektiven in der Raumplanung geschieht höchstens punktuell?

Grundsätzlich ja. Man muss aber sehen: Die Planungsdebatten und -diskussionen sind zunächst mal national. Es gibt durchaus grössere, internationale Konzepte und Leitbilder wie die Stadt der kurzen Wege – ursprünglich eine Erfindung der feministischen Raumplanungsdebatte, heute Mainstream in der räumlichen Planung. Aber solche Ideen werden in den meisten Fällen nicht konsequent umgesetzt. Im kleinen Rahmen gibt es durchaus Projekte, wo Einfluss genommen wird, wie beispielsweise durch den Verein Lares in der Schweiz: Ursprünglich ein durch den Bund gefördertes Projekt, das zum Ziel hatte, mehr Fachfrauen in Kommissionen und Gremien beim Planen und Bauen Einsitz zu verschaffen. Beteiligt war der Verein zum Beispiel am Masterplan Bahnhof Bern. Ansonsten zeigen sich solche Umsetzungen in ganz spezifischen Details wie breiten Fusswegen, gläsernen Fahrstühlen, nicht allzu dunklen Unterführungen oder generell einer Tendenz zu weniger Unterführungen. Die schwierige Frage ist, wie man allen Ansprüchen gerecht wird, wenn Bedürfnisse subjektiv sind. 

Wir stehen hier also auch vor dem Problem, dass die Praxis der Stadtplanung von ideologischem Einheitsbrei durchzogen ist. Wo zeigt sich denn das Patriarchat in der Raumplanung?

Im Standard. Das Problem des Patriarchats ist, dass es maximal die Hälfte der Bedürfnisse der Gesellschaft sieht. Die so genannte Wirtschaft, Unternehmen, Arbeitsplätze und Steuereinnahmen sind im Zweifel wichtiger für die Städte als soziale Infrastrukturen, die die ver- und fürsorgende Arbeit betreffen. Eine feministische Perspektive auf diesen Standard wäre, die nicht entlohnte Arbeit aufzuwerten, sie der entlohnten Arbeit gleichzustellen und im Bruttosozialprodukt zu berücksichtigen. Denn dort taucht die Care-Arbeit nicht auf, weil sie nicht monetarisiert wird. Eigentlich ist sie aber die Stütze des Systems.

Das meinen Sie, wenn Sie in Ihrer Forschung von einer Notwendigkeit sprechen, das wirtschaftliche System zugunsten der Care-Arbeit als Ausgangspunkt umzuwandeln? Wie kann das angegangen werden? 

Das Problem ist: Solche Dinge reflektiert man ja nicht tagtäglich. Wir haben uns daran gewöhnt, in den Kategorien schneller, höher, weiter zu denken. Wenn wir aber in den Einheiten Produktivität und Effizienz denken, heisst das, dass menschliche Arbeitskraft tendenziell überflüssig, eingespart wird. Wenn die gleiche Arbeit von weniger Menschen gemacht wird, dann sprechen wir von Produktivität – vergessen dabei aber, dass es gewisse Arbeiten gibt, und das sind v.a. un- oder schlecht bezahlte Care-Arbeiten, die sich nicht gut auf ein Minimum reduzieren lassen. Arbeit am Menschen kann nicht an Maschinen abgegeben werden – und sie kostet. Man muss aufhören zu denken, das dürfe nichts kosten. Wir haben die Kosten minimiert bei der Herstellung toter Produkte, deshalb steigen die relativ zu den anderen an. Wir müssen uns fragen: Für was haben wir denn das Geld? Einfach um es zu haben? Oder um es sinnvoll und nachhaltig einzusetzen?

Der Verein «Wirtschaft ist Care», den ich auch in meinem Buch «Care-Arbeit räumlich denken» erwähne, setzt sich ein für die Reorganisation der Ökonomie um ihr Kerngeschäft, die Befriedigung tatsächlicher menschlicher Bedürfnisse. Und das heisst: Im Sinne einer Wirtschaft, die primär danach fragt, was notwendig ist zum Leben, für ein gutes Leben. So formuliert es auch der Verein «Vorsorgendes Wirtschaften». Aber hinter diesen Gedanken bringt man nicht die ganze Gesellschaft – zumindest nicht so unmittelbar. Ideen und Konzepte für andere Wohn- und Lebensformen gibt es jedoch (nicht erst) seit dem 19. Jahrhundert, «feministische Utopien», bei denen es beispielsweise darum ging, Hausarbeit zu kollektivieren. 

Es müssen viele Kriterien stimmen, dass ein solches Neudenken gelungene Konzepte hervorbringt. Zum Beispiel müssten laut dem GenderKompass Planung, an dem Sie mitgeschrieben haben, monofunktionale Gebiete vermieden werden. Heisst das, wir müssen den Richtplan komplett über den Haufen werfen?

Der Richtplan ist ja nur ein Instrument wie die Bau- und Zonenordnung auch. Die Pläne können nur das enthalten, was das Recht vorsieht, sie sind abhängig von eidgenössischen und kantonalen Vorgaben. Solange wir zwischen Wohn- und Arbeitszonen unterscheiden, gibt es nicht viele Möglichkeiten, das aufzubrechen. Und wenn das Zonieren nach den alten Modellen geschieht, werden wir immer die gleichen Planungspraktiken fortsetzen. Darunter leidet die Innovation. 

Hängt die Umsetzung auch davon ab, wem der Boden gehört?

Jein – wir haben eine Bodenordnung, Regeln, die bestimmen, wie das begrenzte Gut Boden genutzt werden darf. Für jede Parzelle in diesem Land gibt es eine Idee, aufgeschrieben in einem Plan, der vorgibt, was da sein darf und was nicht. So frei ist man nicht. Aber vielleicht hätten wir uns andere Vorschriften gegeben, wenn wir die Privatisierung des Bodens nicht eingeführt hätten. Dass sie im Sinne des Gemeinwohls schlecht funktioniert, zeigt sich auch an der Frage der Fusswege, gerade hier in den Seegemeinden. Es gab zum Beispiel alte Fusswege, die senkrecht zum Berg verliefen, sie wurden in vielen Fällen privatisiert, d.h. von den Gemeinden aufgegeben, obwohl das wichtige Vernetzungsstrukturen sind für den Langsamverkehr.

Dann ist es doch umso auffälliger, dass bei gemeinnützigen Wohnbauprojekten durch Gemeinden, Genossenschaften und Stiftungen mehr Innovation Einzug findet. Die Privaten jammern ja immer, dass sich das nicht lohnt und die Genossenschaften können trotzdem neue Häuser kaufen. 

Das hängt mit dem Selbstverständnis der Genossenschaften zusammen. Der Gewinn ist gedeckelt. Da gibt es niemanden, der die Hand aufhält, in Zürich zum Beispiel sind Genossenschaften, die Land im Baurecht erhalten, verpflichtet, die Kostenmiete einzuhalten. 

Je nachdem, wer im Besitz von Boden ist, entwickelt den Raum nach anderen Kriterien. Einen Grundplan gibt es schon, dessen Revisionen sind aber schwerfällig. Nehmen wir als Beispiel die Idee von einem durchgehenden Seeuferweg am Zürichsee, von dessen Umsetzung viele träumen. Die wird sich aber nicht ohne Weiteres umsetzen lassen, weil die Grundstückbesitzer am See meinen, das Ufer stehe ihnen zu. Obwohl es Konzessionsland ist.

Das Privateigentum an Grund und Boden ist ein grundlegendes Problem. Wenn dagegen jede und jeder das Recht hätte auf ein Stück Boden, wäre dies auch eine Altersversicherung. Es wäre dann möglich, dass andere Wohn- und Lebensformen bottom-up entstehen können, dass sich Gruppen zusammenschliessen und gemeinsam entscheiden, was mit dem Land gemacht wird. Das wäre im Sinne der Befriedigung der Bedürfnisse aller sicher zielführender. 

Wieso konzentriert sich die Innovation auf der gemeinnützigen Seite statt auf der privaten Seite? Der Kapitalismus bringt Innovation, heisst es doch immer. 

Wenn man traditionell baut, wie immer also, dann geht es am einfachsten, am schnellsten und am günstigsten. Denn wer Innovation zulässt, muss bereit sein, genau hinzuschauen, wie sich die Gesellschaft verändert, sich Bedürfnisse weiterentwickeln. Es braucht dafür auch Ressourcen, zum Beispiel Zeit und Geld für Studien, die erforschen, was gebraucht wird, bevor etwas gebaut wird. Deshalb ist es kostenintensiver. Private Unternehmen müssten bereit sein, die Kosten anders zu verteilen, wenn sie auf Lebensqualität statt auf Profit setzen, das setzt aber eine Umbewertung, einen Wertewandel voraus.

Wie kann man denn überhaupt angesichts Verdichtung mit knapper werdendem Raum umgehen und zugleich hohe Siedlungsqualität garantieren?

Dies ist in der Tat eine grosse Herausforderung. Der Boden wird knapper. Und es heisst, wir brauchen mehr Raum, mehr Wohnfläche für die wachsende Bevölkerung. Wenn wir aber Siedlungsfläche sparen wollen, müssten wir eigentlich primär umverteilen. Nicht jedes freie Stückchen Land neu bebauen. Man könnte zum Beispiel über eine progressive Wohnflächensteuer nachdenken, die ab einer bestimmten Quadratmeterobergrenze pro Person erhoben wird. Das wäre ein möglicher marktwirtschaftlicher Hebel. Oder Gemeinden engagieren sich für die Wohnmobilität im Alter – indem sie altersgerechte Wohnungen anbieten, die gegen zu gross gewordene Einfamilienhäuser, in denen nur noch allein stehende Witwen leben, eingetauscht werden können. Klar hängen an einem Haus auch viele Erinnerungen – aber das Problem ist heute, dass attraktive Alternativen meist fehlen. Es sind leider oft finanzielle Gründe, die die Leute daran hindern, diesen Schritt zu machen. 

Sie sprechen die Umverteilung an – hier geht es um den Wohnraum. Die Umverteilung des Strassenraums ist heute in der Verkehrspolitik auch ein wichtiger Kampfbegriff geworden – ein Kampfbegriff, der auf viel Widerstand stösst. Wie kann man das unserer Gesellschaft schmackhaft machen? Wie würden wir von einem Standard profitieren, der die feministischen Perspektiven in der Raumplanung berücksichtigt?

Also – wenn man davon ausgeht, dass die klassisch männliche oder besser: androzentrische Perspektive den gesunden, weissen Mann in den besten Jahren im Blick hat und räumliche Planung massgeblich von dieser Perspektive geleitet wird, dann hat das Schnelle, Höhere, Weitere regelmässig Vorrang, das Langsamere, Tiefere, Nähere wird vernachlässigt. Die feministische Perspektive richtet den Blick aber genau auf das weniger Mobile, nicht nur Gesunde und somit wird mit diesem Blick viel mehr an Bedürfnissen erfasst. Die feministische Perspektive ist differenzierter, weil sie die Menschen in ihrer Vielfalt und in ihren Alltagsrealitäten in den Blick nimmt. 

Wenn die Planung generell die schwächsten Glieder der Gesellschaft, Kinder, Alte, Nicht-Weisse, Nicht-Eingebürgerte etc. in den Blick nähme, dann wäre eigentlich allen gedient. Beim Strassenraum geht es zum Beispiel darum, ihn unter den Verkehrsteilnehmer:innen und Anwohner:innen bzw. den vielfältigen Bedürfnissen der angrenzenden Nutzungen gleich zu verteilen. Wo das heute nicht der Fall ist, müsste in der Tat umverteilt werden. Zulasten der Autofahrer:innen und zugunsten der vielfältigen langsamen Mobilität: Fussgänger:innen und Velofahrende, Kinderwagen schiebende, auf Rollstuhl angewiesene und an Rollatoren sich fort bewegende Menschen würden profitieren. Aber grundsätzlich auch alle anderen. Denn am Ende sind wir alle auch einmal bedürftig: d.h. auf Care-Arbeiten und Dienste anderer Menschen angewiesen. 

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