- Flora
Mehr naturnahe Lebensräume
2024 stehen erneut Volksabstimmungen an, in denen es um mehr Biodiversität oder zusätzliche Autobahnspuren im ganzen Land oder um die Begrünung der Städte geht. Diese politischen Entscheide sind wichtig. Ebenso das Hinterfragen der Lebens- und Wirtschaftsweise, die zum weiteren rasanten Verlust von Arten und lebensfreundlichen Orten führt. Doch in einer der Vorbemerkungen zum neu vorgelegten «Praxishandbuch Stadtnatur» stellt der Direktor des Botanischen Gartens in Bern fest, dass wir alle auch selbst Vielfalt fördern, gestalten und dabei erleben könnten. Das inspiriere «zum Aktivwerden, Dazulernen und Weitergeben», werde so auch prägend für Kinder, die «Weichenstellenden von morgen». Ähnlich zuversichtlich klingen die derzeit in Bern und Zürich politisch für den grünen Bereich zuständigen Frauen. Wenn sich dann aber die Direktorin des Bundesamtes für Umwelt auf ein Konzept beruft, das die «Schönheit und Vielfalt der Schweizer Landschaften» für heutige wie künftige Generationen bewahren wolle, weckt das bei mir höchstens den bitteren Wunsch, sie möge ihren gegenwärtigen Chef doch bei nächster Gelegenheit an diese bundesrätliche «Vision» erinnern.
Vielfalt macht auch glücklich
In der Einleitung des auch von ihr empfohlenen Bandes steht nämlich, die Biodiversität – «unsere Lebensgrundlage» – befinde sich «im freien Fall». Für das Buchteam kein Grund zur Kapitulation, sondern zum entschiedenen Einsatz für mehr Vielfalt. «Weil es klug ist», «weil sie glücklich macht», «weil es gerecht ist». Damit wird eine deutsche Kollegin zitiert, die auch ethische Argumente für konkrete Naturschutzarbeit ins Spiel bringt. Angesichts der Klimaentwicklung ist ja der Nutzen belebender Begrünungen offensichtlich. Es geht zudem um das Entsiegeln von toten Flächen, die Vernetzung neu gewonnener Inseln. Denn ein kleinräumiges Mosaik mit unterschiedlichen Standortbedingungen kann den Wert für Flora und Fauna wesentlich erhöhen. Schon jetzt finden im Siedlungsgebiet etliche Arten einen Ersatz für Lebensräume, die ihnen einst ein natürliches oder noch traditionell bewirtschaftetes Umland geboten hat. So verlagerten sich etwa die Igel aus dem für sie heute unwirtlichen Landwirtschaftsgebiet weitgehend in städtische Gebiete. Künftig liesse sich von diesen Orten her «eine wieder lebensfreundlicher gewordene Landschaft zurückerobern. Wenn wir es schaffen, sie bis dann zu halten.» Mit dem Trend zur «Siedlungsentwicklung nach innen» nimmt nämlich auch in Städten der Druck wieder zu. Alte, strukturreiche Gebiete werden neu überbaut oder derart verändert, dass zum Beispiel die Wanderkorridore von Tieren danach gefährlicher sind oder fehlen. Bei der Planung einer sogenannten Sanierung oder Verdichtung müssten darum Gebote der Biodiversität von Beginn an berücksichtigt werden. Wo dies nicht geschah, braucht es koordinierte Korrekturen.
Aus dem Bestreben der Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün in Bern, dafür gangbare Wege zu zeigen, entstand im Zusammenspiel mit Fachleuten des Botanischen Gartens der Universität nach einem Themenjahr zu «Natur braucht Stadt» eine erste Publikation. Nun liegt, auch vom Bund, der Stadtgärtnerei Basel und Grün Stadt Zürich unterstützt, ein gesamtschweizerisches Handbuch für alle in dem Bereich tätigen Leute vor. Auch wer ganz privat etwas tun will, wird unzählige Anregungen entdecken. Nach jeweils knappen allgemeinen Einführungen geht es in den einzelnen Kapiteln etwa zu Wiese, Wildhecke, Baum oder Krautsaum präzis ins Detail. Zu allem finden sich kleine Tipps. Die speziell wichtigen «Kleinstrukturen» werden weiter konkretisiert: Totholz, Ast-, Laub-, Steinhaufen … Beispielfotos – auch Zürich ist im neuen Buch diesbezüglich gut vertreten – wecken Lust, die genauen Angaben machen Mut, einen Versuch zu wagen. Merkblätter und Bezugsorte werden genannt. Wo etwas rechtlich heikel sein oder allzu sehr ins Geld gehen könnte, wird auf Auskunftstellen, vielleicht mögliche Förderbeiträge hingewiesen. Zweifellos interessant ist auch der Gedanke, einem Dilemma zwischen Solaranlage und Dachbegrünung durch optimale Kombinationen zu entkommen.
Asphaltknacken – unbewilligt?
Trocken sachliche Details machen das Buch vorab nützlich. Zuweilen wird die Lektüre zum doppelbödigen Spass. So erfreuten beim Abschnitt über «Entsiegelungen» zwei Bildchen mit knappen Legenden mein Gemüt: «Betonstein entfernt und begrünt.» Tätig geworden sind da Studierende der Landschaftsarchitektur in Lausanne im Umfeld einer Gartenausstellung. «Asphalt aufgebrochen und begrünt.» Dies in Bern beim Start der dortigen Stadtklimainitiative. Im ersten Satz des erläuternden Textes dann noch die ermunternde, eher technisch gemeinte Feststellung: «Kleine Flächen können Sie selber entsiegeln.» Voraussetzung sei allerdings «die Zustimmung der Eigentümerschaft» und direkt darunter sollte keine Leitung verlaufen. Baubewilligungen wären «im Normalfall» nicht nötig, wenn mit dem Entsiegeln «keine Nutzungsänderungen» verbunden sei. Sicherheitshalber wird trotzdem auf den Abschnitt über «gesetzliche Grundlagen» verwiesen. Der abschliessende Link zu einer «Asphaltknacker-Seite», auf der vom Naturama Aargau ein Erfahrungsbericht sowie «kostenlose Erstberatung» für weitere Vorhaben angeboten wird, lässt wieder Hoffnungen keimen.
Ein mentales Problem können unterschiedliche Vorstellungen von schöner Natur sein. Was ist Unkraut? Die selbst bei einem bewussten Fördern wilder Strukturen allenfalls unerwünschten Pflanzen werden nur mit Anführungszeichen so benannt. Wie auch die «Schädlinge», die sich notabene in Monokulturen weit besser ausbreiten könnten. Von vielfältigen Kleinstrukturen würden eher Nützlinge angezogen. Klar ist: keine Pestizide! Auch das Verwenden energieaufwendig hergestellter Kunstdünger oder von Torf, bei dessen Abbau anderswo Natur geschädigt wird, ist tabu. Selbstverständlich sind dazu Alternativen angegeben. Zudem werden sich die Leute rundum bald auch an wildere Gärten gewöhnen, wahrscheinlich sogar über ungewohnte Farben und Formen freuen.
Wer nur einen Garten im Miniformat, einen Balkon, ein Fensterbrett zur Verfügung hat, wird nicht weniger sorgfältig beraten und ermutigt, seine Chancen zu nutzen. Dadurch könnten «wichtige kleine Lebensraum-Trittsteine» entstehen, die zur Vernetzung mobiler Arten beitragen. Je mehr es davon gibt, desto besser. Zu vollblumig sollten die bunten Ecken allerdings nicht sein, denn «gefüllte Blüten sind steril. Sie enthalten keinen Pollen, kaum Nektar und sind für Insekten nahezu nutzlos.» Wer sein kleines Reich sorgsam gestaltet, kann auch für sich selbst über die gesamte Vegetationsperiode hinweg vieles zum Ernten und Beobachten finden.
Bioterra besichtigt eine Oase
Auf den letzten Seiten zeigen Artenlisten mit «einheimischen, regionalen» Bäumen sowie Wildsträuchern und -pflanzen, was je nach den gegebenen Bedingungen ideal passen könnte. Dazu finden sich alphabetisch – von Birdlife Schweiz bis WWF und Zoo – allerlei Organisationen und Institutionen, die beim Bemühen um eine bessere Umwelt auch im grösseren Rahmen hilfreich sein könnten. Bemerkenswert unter P eine kurze Notiz zu Parteien als Interessengemeinschaften: «Verbunden mit Gleichgesinnten wird die Stosskraft sofort sehr viel grösser.» Es könnten auch einschlägige Vereine sein.
Und präzis am Tag, als ich das im Buch las, traf die März-Ausgabe der Mitgliederzeitschrift von Bioterra ein. Auf dem Cover das für diese Rezension perfekte Symbolbild, innen eine wunderbare Reportage über einen Garten, den Marilene Jucker im Zentrum von Effretikon bei ihrem Elternhaus als Oase zwischen Einkaufszentrum, Bahnhofstrasse und Stadthaus hütet. «Tag und Nacht brausen Autos vorbei. Das war nicht immer so.» Doch tatsächlich habe sich auch das Grundstück «mit Umschwung», welches ihr Grossvater vor über 110 Jahren als wohl schönstes in der damals noch ländlichen Gemeinde kaufte, ein wenig verändert. Früher herrschte da eine eher strenge Ordnung, erinnert sich die 82-Jährige. «Wildromatisch – dieses Wort gab es noch gar nicht. Aber so würde ich meinen Garten heute bezeichnen.» Vieles von dem, was das «Praxishandbuch Stadtnatur» empfiehlt, ist hier Realität.
Natürlich kommt auch Bioterra im Buch wiederholt vor, etwa als Anbieterin von Kursen und Vermittlerin geeigneter Fachleute, wenn eine Aufgabe kein Selbermachen erlaubt. Im aktuellen April-Heft wird auf eine Pflanzentauschbörse hingewiesen, vorbereitet von der Regionalgruppe Zürich für morgen Samstag von 9.30 bis 15 Uhr im Zeughaushof beim Labyrinthplatz. Der auch für Nichtmitglieder offene Anlass ist verbunden mit einem Markt zu Themen wie Biogarten/Nutzgarten, Naturgartengestaltung, urbanes Gärtnern …
Mut zu wilderen Gärten
Das links gewürdigte Handbuch ist trotz seiner wildurbanen Akzentsetzung nicht nur für Stadtmenschen nützlich. Doch wer primär einen grösseren eigenen Garten im Blick hat, könnte mit der «Naturgarten»-Animation von Katja Falkenburger ebenso gut bedient sein. Tendenziell bietet sie dasselbe. Etwas bunter vielleicht, kompakter und ohne die lokalen Bezüge, aus deutscher Sicht. Das hier für die BRD geschätzte Potential der Privatgärten ist imposant: Gemäss einer Studie des grössten Naturschutzverbandes liesse sich mit deren Umgestaltung die vorhandene Fläche der Schutzgebiete rundweg verdoppeln! Logisch, dass sich der Nabu-Vertreter im Vorwort über entsprechende Ermutigungen freut. Zu einer Zeit, wo der Wunsch nach einer intakten Umwelt immer stärker werde, eröffne sich «vor unseren Haustüren ein faszinierendes Abenteuer», schreibt die Autorin. Sie habe nun «über 20 Jahre Selbstversorgung im Naturgarten schadlos überstanden», und für unsere Zukunft liegt da noch weit mehr drin. Schritt für Schritt zur Vielfalt – das werde für alle ein überraschungsreiches Erlebnis sein.
Vielleicht mit dem Traumbaum
Als gleichfalls erfahrene Fachjournalistin steuerte ihre Kollegin Bross-Burkhardt bereits im Herbst einen Wegweiser für richtige Entscheide beim aufkommenden Traum vom eigenen Baum bei. Den sollte nun unbedingt pflanzen, wer Möglichkeiten sieht. Aber wohlüberlegt, nicht nur zum eigenen Nutzen. Bei ihren Kriterien für die Auswahl der Gehölzart kommen die «persönlichen Vorlieben» nicht zufällig am Schluss, hier sind Klimaspekte im Zentrum. Heimische oder importierte hitzeresistente «Zukunftsarten»? Erstere sind besser für die Biodiversität. Eichen zum Beispiel wären in fast jeder Hinsicht ideal, sind aber «innerorts» nur selten anzutreffen. Sie brauchen viel Raum. Gerühmt wird die schwierige «Kunst der Beschränkung». Doch vielleicht erlauben die Voraussetzungen ja sogar ein «Agroforst»-Experiment im Kleinen? Gehölz lässt sich durchaus «selbst vermehren» … Auch das also ein vielseitig lehrreiches Buch. Wer bei Haupt Natur zu stöbern beginnt, wird weitere finden.