Dramatik und Anekdoten

Uwe Wittstock erzählt in «Marseille 1940» geglückte und gescheiterte Fluchten vor allem deutscher und jüdischer Künstler:innen aus dem besetzten Frankreich.

«Marseille 1940» ist so etwas wie eine Fortsetzung des Buchs «Februar 33. Der Winter der Literatur» (2021), in dem Uwe Wittstock chronologisch und mit vielen kurzen Szenen schildert, wie die Machtübernahme Hitlers sich auf die Kulturschaffenden auswirkte: Für wen eine Flucht ausser Diskussion stand, wer zögerte und es bereute und wem es gelang, sich halbwegs zu arrangieren. Diese Phase ist beim Prolog des zweiten Buches vorbei, in dem Heinrich Mann 1935 seinem Bruder vom Schriftstellerkongress in Paris berichtet. Der Kongress war von den kommunistischen Schriftstellern organisiert worden: Die Säuberungen Stalins wurden langsam bekannt, von den Kongressorganisator:innen unterdrückt, was zu Spaltungen innerhalb der Geflüchteten führte. Anhänger:in der Internationalen unter der Führung der Sowjetunion und damit auch Stalins, Ja oder Nein, war auch ein sehr folgenreiches Verhalten bei der Flucht aus Frankreich, die seit der Besetzung durch Hitlers Deutschland immer dringender wurde. Wer als Kommunist galt, erhielt kaum ein Einreisevisum für die USA. Wobei dies wiederum zu inneramerikanischen Konflikten führte: Während Varian Fry als Leiter der Fluchthilfe in Marseille auf diese Unterscheidung wenig wert legte und die Selektion für die Fluchthilfe eher nach dem Grad der Gefährdung der Betroffenen durchführte, galt das Kriterium für die das Visum erteilende traditionelle Diplomatie viel. Der Autor widmet diesen Konflikten viel Raum, auch wenn er sie in meist kurzen Szenen schildert und sie nicht systematisch zusammenfasst. Was keineswegs als Vorwurf gemeint ist, sondern zur Lebendigkeit des Buches beiträgt. Varian Fry, Sohn eines Börsenhändlers, begabt, aber so aufbrausend, dass er immer wieder aus den Schulen fliegt, gründet nach einem Aufenthalt in Berlin, bei dem er 1935 erlebt, wie Jüd:innen auf offener Strasse verprügelt und ihre Geschäfte zerstört werden, das «Emergency Rescue Committee», das sich zum Ziel setzte, gefährdeten Künstler:innen im Exil zu helfen. Es genoss oft die Unterstützung der Präsidentengattin Eleanor Roosevelt, aber auch die Skepsis der amerikanischen Diplomatie, die sich nicht in einen europäischen Krieg hineinziehen lassen wollte. 

1940 realisiert das Komitee, dass es Künstler:innen nur noch retten kann, wenn es direkt vor Ort ist. In den deutsch besetzten Gegenden (wie Paris) müssen die Hitlergegner:innen damit rechnen, verhaftet und in die KZ nach Deutschland geschickt zu werden, im von General Pétains verwalteten Gebiet landen sie oft in Internierungslagern, in denen die hygienischen Zustände und die Ernährung derart schlecht sind, dass viele ernsthaft erkranken. Weil sich sonst niemand findet, fliegt Varian Fry selber nach Marseille. Er errichtet im Hotel Splendid ein Büro, was sich rasch herumspricht. Ihm steht recht viel Geld zur Verfügung, er hat eine Liste von gefährdeten Personen, denen er zur Flucht verhelfen soll (an der Spitze etwa Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger) und er erhält dafür zunächst auch recht einfach Visa für Amerika.

Anhand von vielen Einzelfällen erzählt Uwe Wittstock, wie Varian Fry sein Zentrum aufbaut, wie er eine Mitarbeiter:innen findet, wie sich diese auch verstricken, wie er und in welcher Verfassung er die Gefährdeten findet, wie sehr sie in unterschiedlichen Finanzsituationen leben. Er realisiert je länger je mehr, wie dominant die Bürokratie und die Korruption sind. So ist es zunächst für ihn recht einfach, Visa für die USA zu erhalten, aber die nutzen wenig ohne Ausreiseerlaubnis aus Frankreich, um nach Spanien und vor allem nach Lissabon zu gelangen, wo die überteuerten, zu selteten Schiffplätze warten. Er lernt, dass es teils nur mit der Illegalität geht, etwa mit den Passüberquerungen in den Pyrenäen, und wie der Erfolg teils auch sehr zufällig ist: Viele französischen Polizisten (aber eben nicht alle) sympathisieren mit den Flüchtlingen, ebenso die Bevölkerung und sehen weg, wenn ihre eigene Sicherheit nicht gefährdet ist. Das Buch zeigt, wie Bekannte der Schlinge, die sich immer enger um sie zog, entkamen und wie andere, wie etwa Walter Benjamin, dem Druck nicht widerstanden. Was bei so vielen Anekdoten über Berühmtheiten fast etwas untergeht: Das Zentrum verhalf ein paar Tausend Gefährdeten zur Flucht und die Helfer:innen erhielten nachträglich erstaunlich wenig Anerkennung.

 

Uwe Wittstock: Marseille 1940. C.H. Beck Verlag 2024, 351 Seiten, 39.90 Franken.

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