- Im Gespräch
«Man muss vom Nahostkonflikt bis zum Budgetposten am selben Tag alles jonglieren können»
Frau Wyler, fühlen Sie sich als Zürcherin in Uri manchmal immer noch als Fremde oder sind Sie inzwischen akzeptiert?
Rebekka Wyler: Uri ist ein traditioneller Kanton. Es ist immer klar, dass man nicht von hier ist, vermutlich auch noch nach 40 Jahren. Aber nach acht Jahren hier und sieben Jahren im Gemeinderat bin ich schon recht gut integriert, denke ich. Die Leute schätzen es, wenn man sich engagiert und nicht nur zugezogen ist, sondern auch Verantwortung übernimmt.
Vermissen Sie manchmal den Zürcher Gemeinderat?
Im Zürcher Gemeinderat wurde schon mit härteren Bandagen gekämpft als in Erstfeld. Und klar, die Legislative ist mehr eine Bühne mit Aussenwirkung als eine Exekutive, wo vieles im kleinen Gremium hinter verschlossenen Türen diskutiert wird. Aber ich schätze auch die sachorientierte Arbeit im Gemeinderat. Hier sucht man einvernehmliche Lösungen statt Schlagzeilen.
In einem anderen Interview mit Ihnen wurde das SP-Generalsekretariat mal als «Schaltzentrale der Macht» bezeichnet. Wie mächtig ist man in diesem Job wirklich?
Es werden dort schon viele Fäden zusammengeführt. Aber die Leute im Generalsekretariat üben nicht selber Macht aus, sondern ermöglichen der Partei und Parteileitung das Ausüben von Macht. Man organisiert die ganze Willensbildung und Beschlussfassung, schmiedet Koalitionen, arbeitet mit anderen Parteien, Verbänden und NGOs zusammen. Das Generalsekretariat hat eine unterstützende Funktion. Die eigentliche Macht liegt bei Parteibasis und -leitung, nicht im Sekretariat.
Wie haben Sie die Zusammenarbeit in der Doppelspitze erlebt?
Das Modell hat sich bewährt, weil man unterschiedliche Profile und Stärken kombinieren kann. Michael kam von der Kommunikation, ich übernahm mehr Organisatorisches. Tom Cassee kennt den Laden ja bereits und bringt viel Kampagnenerfahrung mit.
Was war Ihr grösster Coup als Generalsekretärin, worauf sind Sie besonders stolz?
Sicher die Reorganisation des Sekretariats, die Einführung der Selbstorganisation (Holakratie) vor vier Jahren. Das andere war die Bewältigung der Corona-Pandemie, die uns auf verschiedenen Ebenen gefordert hat – für die Mitarbeitenden, auf politische Ebene, die Verlagerung der ganzen Parteiarbeit in Videocalls und Online-Parteitage. Wir mussten schauen, wer noch ins Büro kommt und dass gleichzeitig alle die nötige Infrastruktur fürs Homeoffice haben. Gemeinsam mit der IT haben wir viele neue Tools zur besseren Zusammenarbeit eingeführt und einen speziellen Newsletter publiziert. Ziel war immer, dass es den Leuten gut geht – sowohl den Mitarbeitenden wie auch den Mitgliedern. Dazu kamen die ganzen politischen Herausforderungen: Der mit den Gewerkschaften errungene Sieg bei der 13. AHV-Rente und natürlich auch, dass wir bei den Wahlen letztes Jahr wieder zugelegt haben. Parteiintern war die grosse Statutenreform zentral, mit der wir neue, transparentere Strukturen geschaffen und die Basis besser einbezogen haben. Auch die Zusammenarbeit mit den Kantonalparteien haben wir stark verbessert.
Gab es auch Momente, wo Sie am liebsten alles hingeschmissen hätten? Was hat Sie dann zum Weitermachen motiviert?
Es gab schon schwierige Momente, zum Beispiel nach den Wahlen 2019, wo wir ein enttäuschendes Ergebnis einfuhren. Du hast in diesem Job verschiedene Aufgaben auf verschiedenen Ebenen. Aber die übergeordneten Ziele wie soziale Gerechtigkeit werden nicht hinfällig, wenn mal etwas im politischen Alltag nicht klappt. Diese grossen Ziele haben mich immer wieder motiviert weiterzumachen, auch wenn es gerade schwierig war.
Was muss man können, um Generalsekretär:in zu sein?
Man muss gut organisieren können, für andere und sich selbst, Prioritäten setzen und den Überblick behalten. Und man muss ein Generalist, eine Generalistin sein. An einem Tag hat man es mit dem Budget zu tun, am nächsten mit einer Personalie, dann gilt es einen Parteitag vorzubereiten und eine Krise in einer Kantonalpartei zu lösen. Es ist zeitlich anspruchsvoll, auch weil man eng mit Ehrenamtlichen zusammenarbeitet, die nicht zu Bürozeiten arbeiten. Notfälle gibt es immer gerne abends oder am Wochenende. Flexibilität ist gefragt, aber man muss auch schauen, dass man Aufgaben sinnvoll verteilen und sich entlasten kann.
Wie war die Zusammenarbeit mit der Parteileitung? Gab es da manchmal auch Reibungen?
Natürlich ist es nicht immer einfach, wenn die einen ehrenamtlich und die anderen als Angestellte für die Partei arbeiten. Die Erwartungen und Vorstellungen sind nicht immer deckungsgleich. Aber insgesamt war die Zusammenarbeit mit dem Präsidium sehr gut. Und wir haben die Arbeit gut aufgeteilt: Die strategischen Entscheide fällt die Parteileitung, das Sekretariat setzt sie dann um und schaut, dass die Partei in allen Belangen gut funktioniert. Spannungen gibt es in einer lebendigen Partei immer, aber wir haben gut damit umgehen können.
Nach sechs Jahren geben Sie den Job ab. Warum?
Nach sechs Jahren ist die Zeit reif für einen Wechsel, finde ich. Die wenigsten halten es viel länger aus, der Generalsekretär der FDP verlässt das Parteisekretariat nun schon nach zwei Jahren wieder. Abgesehen davon kommt das «General» im Generalsekretariat ja auch von Generalabonnement. Ich bin teils 1000 Kilometer pro Woche quer durch die Schweiz gereist. Das muss nicht mehr sein. Aber es waren sehr spannende und lehrreiche Jahre, die ich nicht missen möchte.
Welche Aspekte der Arbeit im Generalsekretariat werden Sie nicht vermissen?
Die zwei Dutzend Chatgruppen, in denen sieben Tage die Woche Anfragen, Meldungen, Zeitungsartikel mit der Frage «Was können wir da machen?», «Wer kümmert sich darum?» reinflatterten. Es ist immer etwas los, immer gibt es irgendwo Probleme zu lösen. Manchmal wünscht man sich schon etwas mehr Ruhe und weniger Hektik. Aber man weiss ja vorher, worauf man sich einlässt.
Ihr Nachfolger Tom Cassee übernimmt den Job nun alleine. So wie das tönt, wird er in der Arbeit ertrinken.
Ich denke, sie werden sich mit zusätzlichen Leuten und anderer Aufgabenteilung neu organisieren. Da mische ich mich nicht mehr ein. Aber klar, man muss gut aufpassen, wie man die Arbeitsbelastung verteilt und wer welche Verantwortung trägt. Aber Tom hat viel Erfahrung und ein gutes Team, er wird seinen Weg finden.
Was raten Sie ihm?
Er muss seinen eigenen Weg finden. Aber zentral ist, den Überblick zu behalten und sich nicht zu verzetteln. Bei der Fülle an Aufgaben kann man den Überblick verlieren. Alle Involvierten, auch das Präsidium, müssen den Durchblick behalten. Man muss vom Nahostkonflikt bis zum Budgetposten am selben Tag alles jonglieren können, ohne die Effizienz zu verlieren. Und man darf die Bodenhaftung nicht verlieren. Ein offenes Ohr für die Basis und die Sorgen der Leute sind genauso wichtig wie das taktische Geschick in Bern.
Wie schafft man das ohne Burn-out?
Mit einer Portion Gelassenheit. Es geht allen so, man ist von Leuten umgeben, die enorm viel arbeiten. Man darf nicht der/die Perfektionist:in sein und muss einander auch mal entlasten können.
Und was werden Sie an der Arbeit im Generalsekretariat vermissen?
Den Kontakt zu den Kantonalparteien, Sektionen und Mitgliedern. Das ist extrem bereichernd und gibt einem ein Verständnis für dieses vielfältige Land mit all seinen kulturellen Unterschieden und Herausforderungen. Manchmal kommt man irgendwo in ein Kaff, wo man denkt: Das ist ein hartes Pflaster. Und dann kommen sieben Nasen und halten mit einem die Fahne hoch. Es ist grossartig, mit solchen Leuten in Kontakt zu sein und sie unterstützen zu dürfen. Dieses Wir-Gefühl, für eine gemeinsame Sache zu kämpfen, auch wenn es gerade schwierig ist – das wird mir fehlen.
Wie geht es für Sie persönlich weiter? Kehren Sie den Grossstädten nun endgültig den Rücken?
Jetzt stecke ich noch mitten im Wahlkampf für den zweiten Regierungsratswahlgang im Kanton Uri, das gibt auch noch viel zu tun. Ich suche aber einen Job hier in der Gegend. Und im Sommer gehe ich für drei Monate auf die Alp.
Ein kleines Sabbatical?
Ja, aber das Alpleben ist auch nicht gerade Erholung pur – man steht schliesslich jeden Morgen um 5 Uhr auf der Matte.
Die Arbeit im Generalsekretariat kann ein Sprungbrett für höhere Weihen sein. Für Sie nicht?
Nein, in Uri sind die Möglichkeiten beschränkt. Und ich will sicher vorläufig hierbleiben. Ein Sprung auf die nationale Politbühne, wie ihn einige meiner Vorgänger:innen geschafft haben, ist für mich kein Thema. Ich bin angekommen, wo ich hinwollte. Mein Platz ist in Erstfeld, nicht in Bern. Ich freue mich jetzt auf neue Herausforderungen – mit etwas weniger Tempo und Hektik, aber weiterhin im Kontakt mit den Leuten.