Konfrontativ

Das lustvolle Selbstverständnis der Rollenauflösung wird in «Roaring» energisch, aktivistisch, frivol wiederbelebt.

 

Die historische Figur existierte, Thomas Dekker und Thomas Middleton Mary schufen ihr mit «Roaring Girl» 1610 ein dramatisches Denkmal, doch die Trennlinie zwischen Legende und Tatsache ist genauso fluid wie ihr öffentliches Ärgernis erregende Spiel mit den Geschlechtern. Martin Bieri (Konzept), Antje Schupp (Regie) und Jules* Elting (Spiel) transformieren die damalige unverschämte Unverfrorenheit, sich über die herrschende Moral wie die geltenden Gesetze zu erheben, in eine Lustbarkeit. Einer Nummernrevue ähnlich stellt Jules* Elting die Person Mary Frith, Marys zahlreiche Alter Egos – der männliche Dieb Moll Cut-Purse, die laszive Revuesensation Mad Mary – einen ihr verfallenden Junggesellen, dessen empörter Vater und den von ihm beauftragen, syphilitischen Elendsüberträger dar. Off-Stimmen und Projektionen komplettieren die Gemengelage, treiben den heftig geführten Disput auf die Spitze. Auch die Zeitreise des Bühnenerlebnisses vermengt die heute sonderlich erscheinende Zeitenwende vom 16. ins 17. Jahrhundert mit dem beherzten emanzipatorischen Selbstbewusstsein im lustvoll-ironisch-schrägen Spiel mit der öffentlichen Erscheinung in der (damals noch primär schwulen) Subkultur ab den 1970er-Jahren. Hinsichtlich des aktuellen, eher an einen Eiertanz gemahnenden Diskurses, eine Verheissung. Peng!, da bin ich! Und ich bin, was ich will, wann ich will, wie ich will. Das heisst zeitgleich alles, wie es auch nichts bedeutet. Es meint Freiheit, lustbetonten Hedonismus, Lebensfreude. Und ist in der darin innewohnenden vollkommen bewussten Verwirrung eventuell gar Provokation für andere hochgradig politisch, was das Amüsement der Ausführung nur noch steigert, weil dies der Punkt ist, an dem die Komödie ihren ernsten Kern entblösst. «Roaring» ist fadegrad heraus selbstbestimmt, heftig, körperlich und konfrontativ. Oder anders formuliert: Ein überaus raffinierter Flirt.

 

«Roaring», 24.1., Winkelwiese, Zürich.

 

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