Schlange stehen

Auch über die Festtage standen sie in der Schlange, um Essen abzuholen. Tausend Menschen jede Woche sollen es an der Langstrasse sein, rund tausend sind es an den Abgabestellen vom Tischlein-Deck-Dich, und wohl nochmals so viele an anderen Hilfsstellen der Zivilgesellschaft: Anstehen in Schneeregen und Kälte für Essen, in der reichsten Stadt des reichsten Landes der Welt.

 

Mag sein, dass sich die bitterste Armut weltweit vermindert hat. Will heissen, die Anzahl derer, die nun von ein paar statt nur von einem Dollar pro Tag leben können. Hurra. Im Gegenzug hat die Armut in Europa zugenommen, nur heisst sie nicht mehr so, sondern sie heisst Prekariat . Bis ein Viertel – manche Quellen sprechen von einem Drittel – aller Menschen in Europa leben prekär, sie haben zwar oft Arbeit, sie reissen sich sogar oft richtiggehend den Arsch auf, aber es reicht nicht. Working poor. Unsichere oder temporäre Stellen, knappe Bezahlung, kaum Sozialleistungen. Leistung lohnt sich nicht für sie.

 

Ein Freund von mir fragte mich einmal, wa­rum wir die Armut zumindest in der reichsten Stadt des reichsten Landes der Welt nicht einfach abschaffen. Die Frage treibt mich immer noch um. Ich kenne die Antwort (Sie übrigens auch, aber wir hören sie alle nur ungern). Denn die Armutsursachen sind ja kein Geheimnis: Geschlecht, Alter (ja, das hat einen Zusammenhang), Kinder, Bildungsmangel, Krankheit, usw. Und viele der Ursachen sind Teufelskreise, man kommt kaum mehr daraus hinaus. Die Abhilfen wären in diesem Sinne einfach: Ein Mindestlohn zum Leben, Lohngleichheit, existenzsichernde AHV, Stipendien für Erwachsene, Prämienverbilligungen usw. Alles alter Kaffee. Vieles davon politisch gescheitert. Denn die Antwort auf die Frage, warum wir Armut nicht einfach ausrotten ist, dass sie politisch gewollt ist. Bürgerliche Politik tut alles, um Armut, und damit verbunden die zunehmende Ungleichheit, zu erhalten. Das Volk zieht leider mit und versenkt zahme Vorlagen wie etwa damals die 1:12-Initiative. (Im Ernst, das war ein gemässigter Vorschlag, die Kantonale Verwaltung Zürich, nur so zum Beispiel, weist eine Lohnspanne von etwa 1:6 auf, das wäre ja dann schon fast Kommunismus…)

 

Hier liegt eine politische Zeitbombe. Denn das Geld wäre ja da. Einkommen und Vermögen aus dem Finanzkapital übersteigen das Bruttoinlandprodukt (als Gradmesser für die Erwerbsarbeit) schon lange. Das Geld arbeitet erfolgreicher als die meisten Menschen. Man bräuchte die Gewinne nur abzuschöpfen. Die Ungleichheit, vorab bei den Vermögen, nimmt grotesk zu, auch in der Pandemie. Aber solange die bürgerlichen Stimmen, welche «Zuwanderung», «Politik» und «den Staat» als Schuldige für das Prekariat anprangern, mehr Gehör finden als die wahren Gründe, dann wird das politisch hoch heikel. Solange es uns nicht gelingt, den prekarisierten Mittelstand abzuholen und ihm klarzumachen, dass zum Beispiel tiefe Löhne nicht «der Politik», sondern schlicht dem Arbeitgeber zu verdanken sind, sind wir in der Defensive.

 

Und es wird noch schlimmer. Wir haben drei weitere Gründe für Preissteigerungen im Alltag: Dekarbonisierung, Deglobalisierung und Demografie. Alles gewollt bzw. hausgemacht, aber eben nicht gratis. Eine Umverteilung der Mittel, um diese Herausforderungen anzugehen, ohne dass einmal mehr der Mittelstand bluten muss, ist existenziell. Aber dazu braucht es andere Mehrheiten in diesem Land. – Moment! Zum Glück ist ja Wahljahr!

 

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