«Jeder Brief versetzte mich ins Gefängnis zurück»

Vom 19. September 2020 bis zum 18. Februar 2022 war Natallia Hersche in Belarus im Gefängnis, weil sie sich gegen die Verfälschung der Wiederwahl von Präsident Alexander Lukaschenko gewehrt hatte. Zwei Jahre später blickt sie im Gespräch mit Tim Haag zurück und in die Zukunft.

Frau Hersche, Sie haben Belarus 2007 verlassen und sich für ein Leben in der Schweiz entschieden. Was hat Sie dazu bewogen, sich dennoch 2020 den Protesten gegen die Regierung von Alexander Lukaschenko anzuschliessen?

Natallia Hersche: Der Auslöser für meine Rückkehr waren die offensichtlich gefälschten Wahlergebnisse, die Lukaschenko erneut an die Macht brachten, entgegen dem wahren Willen des Volkes. Als ich die Ergebnisse aus dem belarussischen Konsulat in Bern sah, wo Lukaschenko verlor, und dann die um 180 Grad gedrehten offiziellen Ergebnisse in Belarus, war ich wütend und enttäuscht. Diese Wut und der Drang, meine Unterstützung zu zeigen, trieben mich zurück in meine Heimat. Während der Demonstrationen erlebte ich ein starkes Gefühl der Gemeinschaft und des Zusammenhalts. Ein besonderer Moment war, als wir Frauen gemeinsam schrien und unsere Stimmen wie Sirenen einsetzten, um einen festgehaltenen Mann zu befreien. So laut habe ich noch nie in meinem Leben geschrien. Die Solidarität und der Mut der Frauen, und wie unsere vereinten Stimmen einen Polizisten zum Freilassen des Mannes bewegten, zeigten mir, dass wir auch ohne Gewalt etwas bewirken können.

Kurz nach diesem Moment der Hoffnung wurden Sie verhaftet. Was ist passiert?

Die Frauendemonstration war gefährlicher als die anderen, weil die Teilnehmerzahl geringer war. Trotzdem beachtlich, aber eben geringer. Es war die letzte Demo vor meiner Abreise, deshalb wollte ich das Erlebnis auskosten. Deshalb stand ich auch in der ersten Reihe, als die Sondereinheiten eintrafen. Die Polizei drückte uns an eine Hauswand und begann, eine nach der anderen von uns festzunehmen. In diesem Moment war mir klar, dass ich mich nicht kampflos ergeben wollte. «Lasst uns rennen», schlug ich den anderen vor, in der Hoffnung, dass so vielleicht ein paar von uns entkommen könnten. Als ich losrannte, folgte mir aber niemand. Ein Polizist ergriff mich und brachte mich in die Untersuchungshaft.

Bereuen Sie heute, zwei Jahre nach Ihrer Freilassung, an den Protesten teilgenommen zu haben?

Was nützt es, sich im Nachhinein den Kopf zu zerbrechen? Ich kann die Vergangenheit nicht ändern. Was ich aber sagen kann ist, dass es für mich damals die richtige Entscheidung war, mich zu engagieren und für Gerechtigkeit einzustehen. Trotz der harten Konsequenzen, die ich tragen musste, würde ich mich wieder so entscheiden. Die Zeit im Gefängnis hat meine Überzeugungen nicht geschwächt, sondern eher bestärkt. Ich stand und stehe noch immer für meine Werte ein und kämpfe gegen Ungerechtigkeit, wo immer ich sie sehe.

Die harten Konsequenzen waren zweieinhalb Jahre Gefängnis. Was war die Begründung für dieses Urteil?

Der Polizist, der mich festhielt, behauptete, ich hätte ihm die Sturmmaske hinuntergezogen und ihn im Gesicht verletzt – eine Behauptung, die völlig aus der Luft gegriffen war. Als einzigen «Beweis» legte die Staatsanwaltschaft ein Foto von sehr schlechter Qualität vor, auf dem ein roter Fleck im Gesicht des Beamten zu sehen war, der eher aussah, als wäre er daraufgemalt worden. 

Wie haben Sie die Zeit im Gefängnis erlebt?

Die Bedingungen waren hart, vor allem in der Frauenstrafkolonie in Gomel. Ich weigerte mich, Uniformen für die belarussische Armee zu nähen, und wurde deshalb insgesamt 46 Tage in den Karzer gesperrt. 

Was ist der Karzer?

Strafisolation. Ein winziger, eiskalter Raum. Erlaubt waren nur wenige persönliche Gegenstände, alles andere, auch eine Decke, ein Kissen oder eine Matratze, wurde mir verwehrt. Ich hatte einzig meine dünne Gefangenenuniform und ein Handtuch – wobei, in der Schweiz würde man das eher ein Küchentuch nennen. Ein kleines Fenster hoch oben in der Zelle war so konstruiert, dass ständig Durchzug herrschte, und um mich ein wenig zu wärmen, musste ich in der Nacht alle zwanzig Minuten aufstehen und auf der Stelle laufen. Und ich war völlig isoliert, ohne jegliche Möglichkeit zu Spaziergängen. Das machte die Zeit im Karzer noch zermürbender.

Welche gesundheitlichen Folgen hatte die Zeit im Karzer auf Sie?

Meine Beine waren durchgehend taub, meine Knie und Fussgelenke entzündeten sich. Medizinische Hilfe wurde mir keine angeboten. Erst nach meiner Entlassung aus dem Karzer wurde bei mir ein Bruch am Fuss diagnostiziert, verursacht durch das ständige Auf-der-Stelle-Laufen. Die Intensität meines Aufpralls auf den Boden hatte ich aufgrund der Kälte und des Taubheitsgefühls nicht bemerkt. Am Ende konnte ich nur noch auf den Fersen laufen.

Trotz alledem haben Sie sich geweigert, wie vom EDA nahegelegt, ein Begnadigungsgesuch zu unterschreiben, mit dem Sie schon viel früher freigekommen wären. Wieso?

Ich habe nichts getan, wofür ich um Vergebung bitten müsste. Ein solches Gesuch zu unterschreiben, hätte bedeutet, das unrechtmässige System und seine Anschuldigungen anzuerkennen. Ich stand zu meiner Überzeugung, dass mein Engagement für Freiheit und Demokratie kein Verbrechen ist. Es war mir wichtig, meine Würde zu bewahren und nicht vor einem Regime zu kapitulieren, das Wahrheit und Gerechtigkeit missachtet. Deshalb habe ich auch nach dem Karzer keine Uniformen genäht.

Woher haben Sie die nötige Kraft genommen?

Ich hatte immer meine Bibel dabei. Beim Lesen fand ich Parallelen zu meiner eigenen Situation. Diese Erkenntnis gab mir die Energie, mich nicht einschüchtern zu lassen. Ich wusste, ich stand auf der richtigen Seite.

Nach 17 Monaten Haft in diversen Gefängnissen wurden Sie am 18. Februar 2022 entlassen. Wie haben Sie sich an diesem Tag gefühlt?

Zuerst traute ich mich nicht, mir Hoffnungen zu machen, dass es wirklich passiert. Ich hatte zuvor schon mehrmals das Gefühl, ich würde entlassen, doch dann wurde ich bloss in ein anderes Gefängnis verlegt oder so. Als mir die eine Verwaltungsarbeiterin der Strafkolonie meine – von Lukaschenko persönlich angeordnete – Entlassung vorlas, freute ich mich natürlich. Zeigen wollte ich diese Freude aber nicht. Ich sagte bloss: «Wunderbar. Das hätte aber schon viel, viel früher passieren sollen.» Dann wurde ich in meiner Gefangenenuniform zum Flughafen gebracht, wo mein Bruder und die Schweizer Botschafterin auf mich warteten. Uns wurde Kaffee und Pralinen angeboten. Das war ein grosser Kontrast zum Gefängnisalltag, wo ich stark abgenommen und einen Teil meiner Haare am Kopf verloren habe. Die Uniform habe ich meinem Bruder gegeben. Sie ist jetzt im belarussischen Museum in London ausgestellt. 

Nach Ihrer Freilassung standen Sie plötzlich im Rampenlicht. Wie gestaltete sich aber Ihr tatsächliches «Wiederankommen» in der Schweiz, im alten Leben, fernab vom medialen Trubel?

Nach meiner Entlassung und der Rückkehr in die Schweiz war ich zunächst von einer Welle der Euphorie getragen. Ich hatte ja schliesslich gewonnen. Ich fühlte mich stark, lief an Demonstrationen gegen den Krieg in der Ukraine mit. Und dann hat diese Euphorie langsam nachgelassen, und mir wurde mir die harte Realität meines neuen Alltags bewusst. Meine alte Wohnung war während meiner Zeit im Gefängnis gekündigt worden, die Erinnerungsstücke an die Zeit vor der Haft waren weg, genauso wie meine Katzen. Das alles brachte mich an einen Tiefpunkt, eine dunkle Zeit. Der Wendepunkt war, als ich mir psychologische Hilfe gesucht habe und einige Zeit in der Reha-Klinik verbracht habe. Das hat mir geholfen, wieder Fuss zu fassen.

Und die Katzen?

Sie waren nach meiner Inhaftierung bei Freunden untergebracht worden, und diese haben sie verkauft. Nach meiner Rückkehr musste ich bis vor dem Friedensrichter kämpfen, bis ich wenigstens eine der Katzen wieder zurückbekommen habe.

Wie fühlt es sich für Sie an, zwei Jahre nach Ihrer Freilassung über Ihre Erfahrungen zu sprechen, und wie wichtig ist es für Sie, Ihre Geschichte zu teilen?

In der Reha-Klinik habe ich gesehen, wie meine Geschichte Menschen berührt und bewegt. Trotz meiner eigenen Schwierigkeiten habe ich es als meine Aufgabe angesehen, draussen zu sein, zu erzählen, um damit vielleicht auch denjenigen Personen zu helfen, die noch immer in belarussischen Gefängnissen eingesperrt sind. Obwohl es oft herausfordernd war und mir psychisch nicht gut ging, habe ich versucht, jede Medienanfrage anzunehmen.

Und Sie haben die Briefe, die Sie in der Haft verfasst haben, an Cordelia Dvorak weitergegeben, die diese zusammen mit Briefen und Tagebucheinträgen anderer in Belarus inhaftierter Frauen als Buch veröffentlicht hat. Wie war es für Sie, diese Aufzeichnungen zu lesen?

Als ich das Buch von Cordelia Dvorak erhalten habe, habe ich natürlich zuerst meine eigenen Briefe gelesen. Jeder Brief versetzte mich ins Gefängnis zurück, am Tag, an dem ich ihn geschrieben hatte. Es fühlte sich an, als sei das alles gestern passiert. Diese Momente erneut zu durchleben, ging mir sehr nahe. Und die Erlebnisse der anderen Inhaftierten genauso. Die Briefe haben mich zu Tränen gerührt.

Warum muss man das Buch gelesen haben?

Unsere Briefe sind direkte Zeugnisse der Erfahrungen und der Ungerechtigkeiten, die wir erlebt haben. Sie sind ein Beweismittel dafür, was wirklich passiert ist. Durch das Lesen dieser Briefe können Menschen vielleicht ein Stück weit nachempfinden, was wir durchgemacht haben, auf eine andere, direktere Art, als wenn wir unsere Erlebnisse nacherzählen.

Wie haben Sie sich seit Ihrer Zeit im Gefängnis verändert?

In der Haft habe ich mich wie in einer Starre gefühlt, klar im Bewusstsein meiner Situation, fest entschlossen, gegen jede Ungerechtigkeit zu kämpfen. Ich war in einer Art Kampfmodus, in dem ich mir kaum erlaubte, sanftere Gefühle zuzulassen. Heute kann ich und will ich das wieder. Ich habe meinen Blick nach vorn gerichtet und versuche, mich als Künstlerin weiterzuentwickeln. 

Als Malerin, um genau zu sein. Wieso?

Ich malte und zeichnete schon immer gerne. Während meiner Zeit im Gefängnis habe ich Mitgefangene und andere Personen, die ich getroffen habe, portraitiert. Das Malen und Zeichnen gibt mir die Möglichkeit, mich auszudrücken und zu verarbeiten, was ich erlebt habe. Einige dieser Zeichnungen sind nun, wie meine Uniform, im Belarussischen Museum in London. Mein Traumberuf ist Gerichtszeichnerin.

Gehen Sie noch an Demonstrationen?

Nur noch selten. Was ich für die Demokratie getan habe, ist schon nicht wenig, finde ich. Und es gibt genügend junge Menschen, die über die nötige Energie verfügen. Es ist an der Zeit, dass sie das Szepter übernehmen. Ich möchte mich jetzt auf meine eigene Zukunft und meine eigenen Träume konzentrieren.

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