Feinfühlig

Maxime Rappaz erzählt, wie eine positive Emotionalität ein routiniertes Leben überwältigt.

Claudine (Jeanne Balibar) lebt und arbeitet als selbstständige Schneiderin in einem kleinen Häuschen etwas abseits der weiteren Siedlung im französischsprachigen Wallis. Ihre Kundinnen sind ihr primäres soziales Umfeld, die Abwechslung, der kurze Ratsch. Zur Hauptsache dreht sich ihr Leben um ihren nächstens erwachsenen Sohn Baptiste (Pierre-Antoine Dubey), der wegen einer körperlichen Beeinträchtigung dauerhaft Unterstützung benötigt. Einmal pro Woche, dienstags, bringt sie ihn zu Chantal (Véronique Mermoud), die Baptiste gegen Entgelt Klavierstunden erteilt. Claudine selbst nutzt diese freie Zeit in mehrfacher Hinsicht für eine Auszeit, die fast ausschliesslich ihr gehört. Mit der Bergbahn fährt sie hoch zum Lac de Dix, überquert zu Fuss die Staumauer der Grande Dixence und lässt sich von einer Gondel wieder hinuntertragen, wo sich eine Unterkunft befindet, die mehr nach Zweckbau denn Hotel ausschaut und trotz allem gut belegt scheint und mit den geläufigen Dienstleistungen eines gastlichen Betriebs aufwarten kann. Bei Nathan (Adrien Savigny) dem Concierge bringt sie in Erfahrung, welche allein reisenden Herren bald wieder abreisen werden. Diese verwickelt sie charmant in ein Gespräch und solange sie es ist, die das Tempo und die Intensität unter Kontrolle behält, entlockt sie ihnen bildhafte Beschreibungen ihrer Herkunftsstädte, um sie anschliessend mehr mehr als weniger direkt zu einem Austausch körperlicher Intimität zu verführen. Auf der Rückreise schreibt sie Baptiste Briefgrüsse seines vielbeschäftigten und in der Welt herumreisenden Vaters, worin sie exakt die beschreibenden Worte der fremden Orte verwendet, wie sie die Herren zuvor geäussert hatten. Sie wirft den Brief ein und kehrt freudig lächelnd in ihren Alltag zurück. Bereits diese Eingangssequenz von Maxime Rappaz Erstling «Laissez-moi» ist in einer wunderhübsch feinfühligen Innigkeit festgehalten. Die Wochen vergehen, die Herren und die Geschichten wechseln. Bis sie mit Michael (Thomas Sarbacher) auf einen Ingenieur trifft, der nicht ganz die Wahrheit spricht und in der Folgewoche immer noch vor Ort ist und ihr sein über eine Gelegenheit hinausreichendes Interesse signalisiert. Eine Art verbotener Liebe, die auch Augenblicke ausserhalb des spartanischen Zimmers beinhaltet, beginnt sich wie schleichend zu etablieren. Das geht soweit, dass sich Claudine sogar in Gedankenspiele versunken wiederfindet, in denen sie sich ein Zweitleben ohne Baptiste als Mittelpunkt ihres Daseins auszumalen erstmals überhaupt bereit ist. Sehr sanft, sehr verletzlich, sehr Herz anrührend.

«Laissez-moi» spielt in den Kinos Frame, Movie.

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