Hungerlöhne für günstige Erdbeeren

Der Solifonds feiert sein vierzigjähriges Bestehen – und nutzt den runden Geburtstag, um Mittel im Kampf gegen die Ausbeutung nordafrikanischer Gastarbeiterinnen in der andalusischen Agrarindustrie zu sammeln. 

«Spende eine Frauendemo»,  «einen Streik» oder «eine Freilassung». Mit diesen Slogans und Bildern von Demos für Arbeitsrechte von Hausarbeiterinnen in Togo, für das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung von Minenarbeitern in Peru und gegen die staatliche Repression in der Türkei rührt der Solifonds auf sein vierzigjähriges Bestehen hin die Spendentrommel. 

42 Jahre zuvor, am Höhepunkt der Drittweltbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre findet in Bern das «Symposium für Solidarität» mit dem Thema «Entwicklung heisst Befreiung aus Unterdrückung, Ausbeutung und Abhängigkeit» statt. Eine der Forderungen, die von den rund 3000(!) Teilnehmenden gemacht wird: Die Gründung eines Kampffonds, um Befreiungsbewegungen im globalen Süden von der Schweiz aus zu unterstützen, als Ergänzung zu den Hilfswerken, die ‹nur› Entwicklungsprojekte durchführen. 

Südafrika bis El Salvador

Ruedi Strahm, Sekretär der Erklärung von Bern und späterer SP-Nationalrat, nimmt die Idee auf, die Organisationen der traditionellen Arbeiter:innenbewegung mit der Drittweltbewegung zusammenzuführen, und so entsteht – nach einiger Diskussion darüber, ob denn dieser Kampffonds den bewaffneten Kampf unterstützen dürfe oder nicht – aus vereinten Kräften von SP, Gewerkschaftsbund, dem Schweizerischen Arbeiterhilfswerk SAH (heute Solidar Suisse) und 13 entwicklungspolitischen Organisationen der «Solidaritätsfonds für den sozialen Befreiungskampf in der dritten Welt» – ohne Unterstützung des bewaffneten Kampfs – mit Ruth Dreifuss im Stiftungsrat und mit Sitz in Neuchâtel, weil der damalige Neuenburger Finanzminister René Felber den Solifonds als gemeinnützig anerkennt.

1983 sammelt der Verein erstmals Geld zur Unterstützung von Gewerkschaften im Apartheid-Südafrika, in den kommenden Jahren und Jahrzehnten folgen Solidaritätsaktionen für Kampagnen und Aktionen von Basisorganisationen in Nicaragua und El Salvador, für Landlose in Brasilien, gegen internationale Palmöl-Unternehmen, die sich Ländereien in Kamerun unter den Nagel reissen. Die zentralen Themen des Solifonds sind bis heute dieselben geblieben: Arbeitsrechte, Frauenrechte, Landkämpfe, partizipative Demokratie, internationale Solidarität. In den letzten Jahren habe infolge der zunehmenden Repression besonders die juristische Unterstützung von Betroffenen an Bedeutung gewonnen, sagt Solifonds-Präsident Urs Sekinger.

Agrarindustrie, Politik und Justiz unter einer Decke

Kernthema des 40-Jahre-Jubiläums des Vereins ist die zunehmende Prekarisierung von Arbeit am Beispiel der marokkanischen Saisonarbeiterinnen in Huelva. Die Gewerkschafterin Soumia Benelfatmi El Garrab ist für Informationsveranstaltungen des Solifonds rund um sein 40-jähriges Bestehen nach Zürich gereist. Während 14 Jahren arbeitete die 36-Jährige in Andalusien als Erntehelferin, sorgte dafür, dass auch im Dezember Erdbeeren zu Tiefpreisen bei hiesigen Detailhändlern zu kaufen sind – und das unter menschenunwürdigen Bedingungen, wie sie erzählt. «Nach einer Woche auf den Feldern tat mir jedes Körperteil weh», erinnert sich Soumia an ihre erste Saison. «Wir arbeiteten jeden Tag eine Stunde länger als abgemacht, weil unser Chef behauptete, wir bezahlten damit unsere Sozialversicherung, Wasser und unsere Unterkunft.» Für drei Monate Knochenarbeit erhält Soumia damals 2500 Euro, oder 5 Euro pro Stunde, weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn. Auch heute zahlen viele Beerenproduzenten schlechter als sie dürften. Arbeiterinnen ohne gültige Papiere, wie es viele aus dem Maghreb-Raum sind, bringen sie in Blechhütten neben den Plantagen unter, weit weg von der Zivilisation. In diesen Hüttensiedlungen sind die Saisonarbeiterinnen ihren Arbeitgebern ausgeliefert. Sie geben Sperrstunden vor, entscheiden, wer nächstes Jahr wiederkommen darf und wer nicht. Berichte von sexuellem Missbrauch häufen sich, genauso wie Arbeitsunfälle: Am Morgen des 1. Mai dieses Jahres – eigentlich auch in Spanien ein Feiertag – stirbt eine Marokkanerin in der Provinz Huelva, als ein mit Saisonarbeiterinnen gefüllter Bus von der Strasse abkam. 

Gegen die Missstände auf den Erdbeerfeldern anzukämpfen, ist schwierig: «Wer aufmüpfig wird», so Soumia, «kommt auf eine Schwarze Liste und wird von keinem Betrieb mehr eingestellt.» Die Betriebe können es sich leisten, wählerisch zu sein. Potenzielles Personal aus Nordafrika gibt es genug, also entscheiden sich die Plantagenbesitzer grösstenteils für verheiratete Frauen mit Kindern – «weil die am Ende der Saison auch eher wieder nach Hause gehen.»

Wer sich trotz Einschüchterungstaktik an die Behörden wendet, hat nur selten Erfolg: «In Andalusien stecken Agrarindustrie, Politik und Justiz unter einer Decke», sagt die ehemalige Erdbeerpflückerin. Sie spricht aus Erfahrung: «Die Pestizide auf den Feldern haben mich nach einigen Jahren krank gemacht. Als ich im Spital war, drohte mir mein Chef, er würde die Guardia Civil rufen, sollte ich Probleme machen.» Dann entlässt er sie. Soumia geht zur Polizei, kann dort nach langem Hin und Her eine Anzeige erstatten, die kurz darauf fallen gelassen wird. 

Von diesem Tag an rackert die Marokkanerin nicht mehr auf den Erdbeerfeldern, sondern engagiert sich bei der Andalusischen Landarbeiter:innengewerkschaft (SOC-SAT). Zusammen mit dem marokkanischen Nationalen Verband des Agrarsektors (FNSA) kämpft sie in der kleinen Gewerkschaft für menschenwürdige Arbeitsbedingungen für die südspanischen Erdbeerpflückerinnen. Es wird gestreikt und besetzt, aber auch juristische Unterstützung angeboten. Mit einem persönlichen Erfolg für Soumia: Nachdem bei der SOC-SAT wiederholt Meldungen von ausbleibenden Lohnzahlungen eintrafen, zeigte sie ihren Ex-Chef erneut an – und dieser musste überraschenderweise über 100 000 Euro Geldstrafe und Nachzahlungen berappen. 

Trotz Erfolgsmomenten wie diesem bereut Soumia Benelfatmi El Garrab den Entscheid, den sie vor 18 Jahren getroffen hat: «Ich habe begonnen, als Saisonarbeiterin zu arbeiten, um mein Leben zu verbessern. Am Ende habe ich das Gegenteil bewirkt. Über all die Jahre war ich unglücklich, habe mich krankgearbeitet und meine Familie kaum mehr gesehen.»

Probleme mit dem Nachwuchs

Mit seiner 1.-Mai-Spendenaktion unterstützt der Solifonds die Gewerkschaften der Erdbeerarbeiterinnen in Huelva und in Marokko. «Wir hoffen, mit unserer Karten- und Plakatkampagne möglichst viele zusätzliche Geldmittel für die internationale Solidaritätsarbeit der Stiftung zu sammeln», sagt Präsident Urs Sekinger. Er gibt allerdings zu, dass der Solifonds – wie viele andere solidarische Gruppierungen – mit Überalterung der Spender:innen und dem Erreichen eines jüngeren Publikums zu kämpfen hat: «Heute würden wohl kaum mehr 3000 Leute an einer Veranstaltung wie dem Symposium für Solidarität in den 80er-Jahren auftauchen.» Die Gründe sind für Sekinger klar: «Einerseits ist die Linke seit dem Ende des Realsozialismus noch viel weniger geeint als früher, und andererseits stehen heute einfach andere Themen, die näher an der Schweiz sind, im Vordergrund. Mit dem Krieg in der Ukraine bleibt in den Köpfen wenig Platz für Kriege und Probleme im globalen Süden.» 

 

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