Eine andere Welt ist möglich – aber wie?

Zur Zeit toben 22 Kriege auf der Welt. Wohl kein Mensch wünscht sich, im Krieg zu leben, kaum ein Mensch erträgt es, Ungerechtigkeit zu erleiden. Wenn ein Krieg so nahe liegt wie der russische Krieg in der Ukraine, dann fordern dieser Krieg «vor der Haustür» und die mit ihm verknüpften Gerechtigkeitsfragen unser Denken und unsere Haltung heraus, wir kommen nicht darum, nach Positionen zu suchen. Ein Essay, das Menschen vorstellt, die nicht nur denken, sondern auch handeln.

«Eine andere Welt ist möglich», diese Hoffnung bewegt Menschen seit über 150 Jahren, seit der Zeit der Gründung der Nationalstaaten. Die meisten sind Resultate von Kriegen, «Kriegsstaaten», wie sie der Historiker Wolfgang Reinhard in seiner «Geschichte der Staatsgewalt» bezeichnet. Nationalstaaten schöpfen ihre Identität aus der mit phantasievollen Erzählungen geschürten Empfindung eigener Besonderheit. 1871 wollten die Pariser Kommunarden das Momentum der Niederlage ihres ungerechten Klassen-Nationalstaates im deutsch-französischen Krieg nutzen und mit Waffengewalt Freiheit und Gerechtigkeit erkämpfen. 1889 schrieb Bertha von Suttner, auch bewegt von diesem Krieg, ihren Roman «Die Waffen nieder» und gab damit einen wichtigen Anstoss für die Friedensbewegung. Muss friedliches Zusammenleben in einem gerechten Staat mit Waffengewalt erkämpft – oder verteidigt – werden, oder gibt es «nahezu immer  friedliche Auswege aus all denjenigen Krisen, die bislang immer nur mit kriegerischen Mitteln beendet worden sind», wie der Pazifismus-Verteidiger Olaf Müller schreibt? 

Nicht länger wegschauen

1970 reist der zwanzigjährige Tessiner Bruno Breguet nach Beirut; er will sich im Kampf der Palästinenser für Gerechtigkeit engagieren. Um ihr Elend mitzuerleben, verbringt er mehrere Wochen in einem Flüchtlingslager. «Ich sah endlose Massen alter Männer, Frauen, Kinder die gezwungen waren, ein Leben in unglaublichem Elend zu führen (…) Ich wusste, dass ich nicht länger wegschauen konnte. Ich wollte die Juden Palästinas auf die elende Lage der palästinensischen Bevölkerung aufmerksam machen.» Bruno meldet sich bei der Befreiungsbewegung PFLP – und erhält den Auftrag, in Israel ein Sprengstoffattentat auszuführen. Bei seiner Einreise nach Israel fliegt er auf und wird, bevor er seinen Plan ausführen kann, zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Dank einer internationalen Kampagne, an der sich Persönlichkeiten wie Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Noam Chomsky, Erich Fromm oder Jean-Paul Sartre beteiligten, wird er nach sieben Jahren vorzeitig entlassen. Aber diese Jahre im Gefängnis, zusammen mit palästinensischen Widerstandskämpfern, haben ihn in seinem Kampf um Gerechtigkeit erst recht bestätigt. Er schliesst sich der Organisation des in jenen Jahren weltbekannten Terroristen Carlos an und pendelt zwischen geheimen Einsätzen und beschaulichem Leben im Tessin. Eine Jugendfreundin schildert Bruno als liebevollen Menschen, fest entschlossen, sich gegen die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus und des Imperialismus zu engagieren, als klandestiner Einzelkämpfer, der sich nie bei kollektiven Protesten, Demonstrationen, Kundgebungen beteiligte. Die vom Historiker Adrian Hänni beschriebenen  zunehmenden Verwicklungen Bruno Breguets in Aktionen verschiedener Geheimdienste – sogar für den CIA – können seine Tessiner Freunde nicht nachvollziehen. Breguet verschwindet 1995 unter mysteriösen Umständen auf einer Fähre zwischen Italien und Griechenland.

An das Gute glauben ist radikal

1971 wird der Schaffhauser Theologiestudent  Ueli Wildberger Mitglied des Internationalen Versöhnungsbundes IFOR. Er ist überzeugt von Gandhis Weisheit: «Gewaltanwendung führt zu einer Abwärtsspirale von noch mehr Hass und Gewalt.» Ueli tritt nie eine Pfarrstelle an, er wird Friedenskämpfer. Sein Grundsatz: «An das Gute glauben ist nicht naiv, an das Gute glauben ist radikal.»

Einer seiner ersten Einsätze ist der Kampf gegen das deutsche AKW Wyhl. Als die hochgerüstete Polizei die tausenden AKW-Gegner:innen zurückdrängt, die Demonstrierenden nicht nachgeben, stimmen Ueli und seine IFOR-Aktivist:innen «We shall overcome» an, sprechen die Polizisten an, können die Massen vom Steinewerfen abhalten – und es gelingt: Das Gelände wird friedlich besetzt.

Ueli ist an allen Anti-AKW-Aktionen zuvorderst dabei: Kaiseraugst, Gösgen, nach Harrisburg 1979 organisiert er – zusammen mit dem ‹A-Bulletin› – einen Hungerstreik, nach Fukushima die Aktion MenschenStrom ohne Atom. Ueli steht 1989 ganz vorne bei den Demos gegen den Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen, gegen das WEF in Davos, gegen den G8-Gipfel in Evian 2003. Singend, debattierend, ein trainierter Friedenskämpfer. Als Kriegsdienstverweigerer sitzt Ueli 1974 im Gefängnis, er kämpft gegen den Schweizer Waffenhandel: «Nein gegen das Geschäft mit dem Tod»- und wenn die Kriegsopfer bei uns ankommen und ausgeschafft werden sollen, organisiert Ueli Solidaritätsaktionen, hilft 2009 mit bei der Gründung des Solinetzes.

Als Mitglied der Peace Brigades organisiert er Begegnungen zwischen Verfeindeten im Krieg in Kosovo 1999. Ueli ist ein Gruppenmensch, alle diese vielen Aktionen wurden in Kollektiven vorbereitet, ausführlich diskutiert, reflektiert. Mit seiner Frau France zusammen hat Ueli sein ganzes Leben in Wohngemeinschaften gelebt. Ueli ist Ende Januar in Zürich gestorben. 

Beide, Bruno und Ueli, sind engagierte Kämpfer für eine andere, eine gerechtere Welt. Es geht ihnen nicht um persönliches Ansehen, Macht, Geld, sie sind selbstlose Idealisten. Sie handeln, wo sich andere nur empören. Aber ihre Wege, wie sie diese andere Welt schaffen wollen, sind grundverschieden. Bruno sieht keine andere Möglichkeit, als die strukturelle und physische Gewalt, die den Palästinenser:innen angetan wird, mit gleichem zu vergelten, «Auge um Auge, Zahn um Zahn». Er wird dafür in der Öffentlichkeit als «irregeleiteter Terrorist» verurteilt, bei Sympathisant:innen erhält er für seine Radikalität Anerkennung. Ueli lässt sich von Gandhis Einsicht, «Gewaltanwendung führt zu Hass und Gewalt», leiten und versteht gewaltfreies Handeln als aktiven Widerstand gegen Gewaltanwendung und setzt sich für konsequentes Festhalten an friedlichen Mitteln ein. In pazifistischen Kreisen geniesst Ueli für sein Handeln grosse Achtung, an militanten Demonstrationen wird über die Naivität des singenden Ueli und seiner Gruppe gespottet.

Mit einem Löffel Wasser aus dem Ozean schöpfen

Der Israeli Rami Elhanan und der Palästinenser Bassam Aramin, die kürzlich auf einer Vortragstour die Schweiz besuchten, zeigen eindrücklich, dass es «kreative, gewaltfreie Wege» gibt, auf die «elende Lage in Israel» aufmerksam zu machen. Die beiden Männer, der eine israelischer Soldat, der andere palästinensischer Freiheitskämpfer, haben je eine Tochter verloren, die von der Gegenseite umgebracht wurden. Sie verstehen sich heute als Brüder, als Kämpfer für eine gemeinsame Zukunft. Und um diesen gewaltfreien Kampf zu führen, habe sie sich mit der Geschichte ihrer Feinde befasst, mit dem Holocaust und der Nakba, der Vertreibung der Palästinenser. Sie verbinden die persönliche schmerzhafte Erfahrung des Verlusts ihrer Kinder mit dem Aufbruch in eine gemeinsame, friedliche Zukunft. «Kein Mensch kann uns zuhören und bleiben, wie er ist», sagt Rami. Aber auch: «Wir schöpfen mit einem kleinen Löffel Wasser aus dem Ozean.»

Ist dieses gewaltfreie Wasser-Löffeln am Ozean von Hass und Gewalt der einzig richtige Weg zu einer anderen Welt? Die Weltgeschichte zeigt ein widersprüchliches Bild: Der wohl erfolgreichste gewaltlose zivile Ungehorsam der Weltgeschichte ist die mit dem Namen Gandhis identifizierte indische Unabhängigkeitsbewegung, das spätere Blutbad zwischen Hindus und Moslems konnte sie aber nicht verhindern. Die baskische Friedensbewegung «Gesto por la paz» hat 2018 mit dem immer breiteren gewaltlosen Widerstand der Zivilbevölkerung gegen Terroraktionen wesentlich zum Ende der ETA beigetragen. Anderseits: Wäre der Schweizer Hitler-Attentäter, der Priesterseminarist Maurice Bauvaud, 1938 erfolgreich gewesen, wäre durch diese Gewalttat vielleicht die grösste Kriegskatastrophe der Menschheit verhindert worden? Ohne die Waffengewalt der russischen und amerikanischen Armee im Zweiten Weltkrieg wäre Europa für Jahrzehnte von einer faschistischen Diktatur beherrscht worden. Oder: Der 1968 in Prag von Reformkommunisten aufgebaute «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» wurde von den Truppen des Warschauer Pakts militärisch abgewürgt – der zivile Widerstand blieb chancenlos.  1989 wurden hunderte gewaltfrei Protestierende auf dem Tiananmen-Platz in Peking von Panzern niedergewalzt.

Leider scheinen mir die von Olaf Müller propagierten  «friedlichen Auswege aus Krisen, die bislang nur mit kriegerischen Mitteln beendet worden sind», doch eher die Ausnahme in der Weltgeschichte, meistens haben Waffen entschieden. Die friedlichen Löffel sind tatsächlich sehr klein am Ufer des Ozeans der Gewalt.

Gesinnung oder Verantwortung?

Ist der zur Waffe greifende Bruno Breguet ein gescheiterter Realist – Palästinenser:innen leben heute noch im Elend – und der gewaltfreie Ueli Wildberger – noch immer handelt die Schweiz mit Waffen – ein gescheiterter Idealist? Die Frage, welche Maxime uns im Ukrainekrieg leiten soll, spaltet die Friedensbewegung: Gebietet eine pazifistische Wertorientierung «Frieden schaffen ohne Waffen» oder lässt sich der Einsatz von Waffen gegen den Aggressor nicht nur rechtfertigen, sondern ist sogar geboten? Der Soziologe Max Weber unterscheidet «Gesinnungsethik» als konsequentes Handeln aufgrund prinzipieller Überzeugungen von der «Verantwortungsethik» als Handeln mit Blick auf die Folgen des Handelns. Wenn Ueli in seinem Buch schreibt, «Man kann von Frieden erst  sprechen, wenn niemand mehr in Unfreiheit, Not oder Krieg lebt», so leitet nicht primär die absolute Gewaltlosigkeit sein Handeln an, sondern das Ziel: Frieden in Freiheit. Wenn Bruno ein terroristisches Attentat plant, drückt das zwar seine radikale Gesinnung aus – Zahn um Zahn – er nimmt aber schwerwiegende Folgen in Kauf: die Tötung von Unbeteiligten. 

Zerreissprobe der Friedensbewegung

Der überzeugte Pazifist Pius Süess gesteht am Ostermarsch: «Ich bin zerrissen wegen dieses Krieges. Dass wir die Ukraine halt in Gottes Namen unterstützen müssen, bis hin zu Waffenlieferungen, nehme ich zähneknirschend hin.» Jo Lang, bekanntester Friedensaktivist der Schweiz, sagt zum ‹Blick›: «Immer wenn ein Aggressor einen Konflikt zu seinen Gunsten wenden kann, führt das zu einer Schwächung des Friedens, und zwar weltweit.» Das Völkerrecht verbietet den Einmarsch in einen souveränen Staat, wird dieser Damm durch eine siegreiche militärische Invasion gebrochen, steht der Frieden weltweit in Gefahr. Das haben in der jüngeren Geschichte die widerrechtlichen Kriege der USA in Vietnam und im Irak gezeigt – und das gilt heute für den russischen Angriff auf die Ukraine. 

Die Akzeptanz von Waffenlieferungen kritisiert ein Teil der Friedensbewegten als «Gesinnungswandel», als «rechtsumkehrt», als «Marsch in die Gegenrichtung». Auch ihre Position lässt sich verantwortungsethisch begründen: Ohne bewaffneten Widerstand gegen die russische Aggression wäre es nicht zum Tod von zehntausenden von Menschen und zu unfassbaren Zerstörungen gekommen. Olaf Müller gibt zu bedenken: Sind Waffenlieferungen an die Ukraine zur Erreichung eines Friedens in Freiheit berechtigt in Anbetracht, dass diese Waffen möglicherweise den Konflikt zum Atomkrieg eskalieren lassen?

Auf einer andern Ebene argumentieren Gegner:innen von «Waffen für die Ukraine», wenn sie diesen Krieg als Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland bewerten, der seitens Nato provoziert worden sei. Waffen für die Ukraine bedeuten aus ihrer Sicht Parteinahme für den «Hegemon USA». Was aber wären, verantwortungsethisch betrachtet, die Folgen eines strikten Waffenembargos und des daraus folgenden Zusammenbruchs des ukrainischen Widerstands? Die Ukrainer:innen würden dem brutalen Repressionsapparat ausgeliefert, wie ihn das diktatorische Regime Putins heute praktiziert. Pazifistische Positionen zu diesem Krieg nur aufgrund geopolitischer Bewertungen übergehen die elementaren Interessen der Ukrainer:innen.   

Friedensarbeit braucht langen Atem

«Krieg ist das krasseste Chaos», schreibt Olaf Müller. Ist er einmal ausgebrochen, «hört die Herrschaft über ihn auf», meint Alexander Kluge. Es ist dann wie im Lawinenwinter: Zu spät, um Lawinenverbauungen zu errichten. Es geht um rasche Evakuierungs- und Rettungsaktionen – im Frühling danach ist es Zeit für langfristige Schutzmassnahmen. Im Chaos Krieg hilft den Friedensaktivisten die «einzige korrekte Linie» nicht weiter; «Kapitulation ist das Gegenteil von Pazifismus; die Verteidigung gegen einen Aggressor ist eine legitime Haltung», sagte der Friedensrats-Sekretär Peter Weishaupt im ‹A-Bulletin›-Interview im März 2022. Wenn der Krieg ausgebrochen ist, gilt das Prinzip Solidarität: auf die Betroffenen hören, ihre Flucht oder ihren Widerstand unterstützen. Das kann heissen: Grenzen öffnen oder Waffen liefern oder beides. Für Pazifismus ist es zu spät – oder zu früh: Friedensarbeit braucht langen Atem, Rami und Bassams Projekt ist ein Generationenprojekt.

Und es gilt, die Zeit nach der Kriegskata­strophe vorzubereiten: Ein eindrückliches Vorbild dazu ist die Versöhnungskommission in Südafrika nach dem Ende der Apartheid.  Friedensarbeit baut auf der Erkenntnis auf, dass vermeintliche Gegner:innen zwar von unterschiedlichen Erzählungen geprägt werden, sie aber wie Rami und Bassam Menschen sind, Gleiche, die Freiheit und Solidarität – liberté, égalité, solidarité – leben wollen. 

Den eindeutigen Weg zu suchen, ist eine Gemeinschaftsaufgabe

Bruno und Ueli haben ihr Leben eingesetzt, damit die Welt anders werde. Was sie neben ihren Methoden unterscheidet: Bruno war ein Einzelkämpfer, er plante und handelte im Verborgenen, nur wenige waren eingeweiht in seine klandestinen Aktionen; Ueli hat sein Leben in Gemeinschaft verbracht, alle seine Aktionen wurden im Austausch, in Debatten geplant und im Kollektiv umgesetzt.

Mir scheint: Eine andere Welt möglich zu machen ist eine so komplexe Aufgabe, voller Widersprüche, Unwägbarkeiten, dass wir sie nur als Gemeinschaften angehen können, als Gemeinschaften von «Menschen guten Willens», die ihre unterschiedlichen Einschätzungen und Positionen gegenseitig respektieren und im Dialog nicht nach dem einzig richtigen, sondern nach den besseren Wegen suchen.

Literatur

Adrian Hänni: Terrorist und CIA-Agent. Die unglaubliche Geschichte des Schweizers Bruno Breguet. NZZ Libro, Basel 2023, 300 Seiten, 36 Franken.

Ueli Wildberger: Schöpferische Gewaltfreiheit. Eigenverlag. Zürich 2023.

Olaf L. Müller: Pazifismus. Eine Verteidigung. Reclam 2022, 116 Seiten, 9.90 Franken.

Alexander Kluge: Kriegsfibel 2023. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 126 Seiten, 23.50 Franken.

Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. München 1999.

‹Widerspruch› Nr. 80: Ukraine, Krieg, linke Positionen. Zürich, Mai 2023.

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