Impressionen des Grauens, des Kampfes, des Wandels

«Sie wollte nicht mehr in die Fabrik!» Nie mehr. In den eindrücklichen Büchern von Olga Meyer hat das Anneli aus dem Tösstal seinen Weg zu mehr Sonne und Freiheit gefunden. Heute ist die ausbeuterische, Leben zerstörende Kinderarbeit für alle überwunden. Hierzulande … Zwei neuere Publikationen erinnern an Verdrängtes.

Kurz vor dem Tag der Arbeit wird heute, am 28. April, der bei uns weniger bekannte Workers Memorial Day begangen, laut Wikipedia «ein internationaler Tag des Gedenkens an Lohnarbeiter, die aufgrund von Arbeit getötet, verstümmelt beziehungsweise verletzt wurden oder erkrankt sind». Noch immer sterben nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) jährlich mehr als zwei Millionen Menschen in dem Zusammenhang.

Auch hier – vor 200 Jahren

Gelegentlich hören wir von derartigen Dramen. Einzelfälle – oder weit weg. Das hier in Erinnerung gerufene Elend war nah, begann vor rund zweihundert Jahren. «Fädlikinder» wurden jene Buben und Mädchen genannt, die damals mit schonungsloser Arbeit in den neu aufkommenden Textilfabriken «um ihre Kindheit betrogen wurden». So das Urteil von Bernadette Zemp, die mit ihrem kleinen Bändchen etwas von dem weitergibt, was sie beim fast zufälligen Blick in ein ihr zuvor fremdes Stück unserer Geschichte erschütterte. Nach dem Umbau einer alten Mühle im aargauischen Seon trug sie als Hobbyhistorikerin allerlei Material über diese zusammen, wurde danach auf das Gebäude ennet dem Bach, eine ehemalige Spinnerei, angesprochen und das Los dort beschäftigter Jugendlicher. «Während der Recherche stockte mir einige Male der Atem», kaum zu glauben, «wie hartherzig die Fabrikherren mit den Kindern umgingen» und wie lange es dauerte, bis endlich Regelungen zu deren Schutz durchgesetzt wurden. Tatsächlich wecken die zusammengetragenen dokumentarischen Splitter eine intensivere Impression des Grauens, als dies manch dickes Sachbuch vermag.

«Anneli» als starkes Symbol

Zemp bezieht auch die «Anneli»-Trilogie der Jugendbuch-Autorin Olga Meyer mit ein, die sich beim Schreiben auf Erinnerungen ihrer Mutter stützte. Sie zeichnet den Weg eines Landmädchens nach, das im Tösstal zunächst ziemlich unbeschwert aufwuchs, dann in die Maschinerie der dortigen Textilindustrie geriet, aber dank spontaner Widerständigkeit, einem hilfreichen Umfeld und glücklichen Umständen den individuellen «Kampf um Sonne und Freiheit» gewann. In der zuletzt zitierten Passage begegnet Anneli, das im seit Kurzem neu verkehrenden Zug zum Antritt einer Stelle «hinaus in die Welt» – nämlich nach Zürich – reist, noch einem Vorarbeiter aus der Fabrik, der den «Hochmutsfratz» mit strengem Blick mustert. Er hatte seiner Mutter einen Abend lang von «gruseligen Geschehnissen» in der Stadt erzählt. Alle hörten still zu, «die Angst war in der Stube hoch und höher gekrochen». Doch bei ihr blieb der «Schrecken davor, hinter die Mauern der Fabrik zurückzumüssen», grösser. Nie wieder! Was immer kommen möge.

Illustriert sind diese Auszüge mit sogenannten Schabzeichnungen, die Rahel Henn «auf den Spuren Annelis» für ihre Maturarbeit schuf. Die selbst im Tösstal aufgewachsene, nun in Uster lebende Kinderärztin war fasziniert vom «lebendigen und starken Mädchen, das in einer mir fernen und unbekannten Welt lebte» – obwohl es im Nachbardorf aufwuchs. Sie war ihm dank der «Anneli»-HörSpiel-Serie begegnet, die ihre Mutter auf Kassetten aus der Ortsbibliothek brachte. Später habe sie dann auch die Bücher gelesen, sich intensiver mit den Hintergründen beschäftigt. Der dazu verfasste Text ist knapp, aber klug, und in der Übersicht prämierter Maturitätsarbeiten an Zürcher Mittelschulen von 2005 wird festgehalten, die von ihr gewählte Technik und «ausgewiesene Fähigkeiten im Bereich der figürlichen Zeichnung» hätten es der Schülerin erlaubt, «das Kinderschicksal aus dem 19. Jahrhundert auf sehr eindrucksvolle Art zu bebildern und erlebbar zu machen». Dass diese markante Grafikserie dank der neuen Publikation über die «Fädlikinder» nun gedruckt vorliegt, ist erfreulich. Sie prägt das Buch, und ihr letztes Bild schlägt zudem eine Brücke zum Jetzt. Es verweist auf Kinderarbeit «im 21. Jahrhundert in Indonesien».

Engagiert, aber eher politikfern

Anschliessend beleuchtet Miriam Volz vom christlich geprägten ‹World Vision›-Hilfswerk die aktuelle Lage. Zwar nahm «ausbeuterische Kinderarbeit» zu Beginn des Jahrhunderts ab, laut ILO von 264 Millionen betroffenen Jungen oder Mädchen auf 160 Millionen, doch neue Krisen drohten auch hier gemachte Fortschritte zu untergraben. Politisch werden die UN-‹Agenda›-Ziele und im Inland die Konzernverantwortungs-Initiative als richtungweisend genannt. Individuell wird auf Konsumentscheidungen verwiesen, welche wir alle treffen könnten. 

In der Rückblende zeigen Exempel zwar das Leiden und die Brutalität frühkapitalistischer Dynamik. Diese wird aber nie so benannt. Inserat im ‹Anzeiger von Uster› um 1870: «Zwei zahlreiche Arbeiterfamilien, namentlich mit arbeitsfähigen Kindern, finden gute Aufnahme in einer Feinspinnerei.» Kinderarbeit als Selbstverständlichkeit. Für den Lebensunterhalt nicht ausreichende Löhne zwangen die Eltern, den minimen Verdienst ihrer Kleinen dem Schulbesuch vorzuziehen. «Sie nahmen sogar Bussen und Strafen auf sich, um die Kinder in der Fabrik arbeiten zu lassen.» Auch wenn 1810 eine staatliche Armenkommission die Abschaffung des Übels forderte, begann «der steinige Weg zum Fabrikgesetz» erst 1877. Verdingkinder hatten es meist noch schwerer. Für alle galt: «Sie mussten funktionieren. Sie mussten schweigen.» Sonst gab es Schläge. 1863 wurde im Kanton Aargau zwar das Anstellen unter 13-Jähriger untersagt und für Ältere galt eine Höchstarbeitszeit von täglich 12 Stunden. Erwachsene hatten in Windisch beim überregional agierenden «Spinnerkönig» Heinrich Kunz vierzehneinhalb Stunden zu schuften, bei Sechs-Tage-Wochen. «Weil seine Spindeln und Maschinen keinen anderen Zweck hatten, als Baumwollgarn in möglichst guter Qualität zum billigsten Preis zu produzieren, so waren in seinen Augen auch seine Arbeiter zu nichts anderem da, sie waren für ihn Maschinen», merkt dazu ein Ortschronist an. Gemäss einer 1837 von der Schulpflege erstellten Liste beschäftigte Kunz damals 90 Knaben und 68 Mädchen. Von denen waren 65 jünger als 13 Jahre, einige nicht einmal zehn.

Von der persönlichen Erfahrung her richtet Bernadette Zemp bei Fotos, die sie zu den einzelnen Beispielen stellt, ihren Blick gern auf die Neunutzung der Gebäude. «Sie bieten vielen Menschen einen aussergewöhnlichen Lebensraum.» Wie ihre eigene Mühle wurden daraus attraktive Wohn- und Arbeitsorte. Mögen dort ihre «Fädlikinder» im einen oder anderen Regal landen und zuweilen an Vergangenes erinnern.

Hintergründe aus dem Oberland

Umfassender sind die Analysen des durch die industrielle Revolution und später erfolgten Wandels in «Feld, Flarz, Fabrik». Da wird die Entwicklung des Zürcher Oberlandes über gut vier Jahrhunderte hinweg betrachtet: Eine «ursprüngliche Agrarlandschaft», von sich rasant entwickelnden Technologien und Verkehrsinfrastrukturen völlig umgeprägt, gewinnt beim Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft in der wachsenden Agglomeration wieder neue Bedeutung als Erholungsraum. Dies arg gerafft die Spur der präsentierten Geschichte des steten Fortschritts. Wenn ich hier einen besonders trüben Punkt herauspflücke, rezensiere ich das Buch sozusagen gegen den Strich. Doch immerhin ist ihm dort eines der zwanzig Kapitel gewidmet: «Kinderarbeit – vom Ämtli zur Arbeitskraft.» Selbst in diesem Titel steckt Schönfärberei, der abgebildete Junge wirkt kerngesund und in der Legende steht, «kräftig anpacken» sei schon in der Landwirtschaft die Regel gewesen. «Vor allem Verdingkinder mussten hart arbeiten.» Aber dann wird doch deutlich, dass Einsätze auf einem Bauernhof, «selbst jene in einer Spinnstube oder einem Webkeller», nicht mit dem zu vergleichen sind, was beim Aufkommen der mechanischen Spinnerei in den Fabriken geschah. Acht- bis Zehnjährige begannen dort als sogenannte Anstecker, hatten die Spulen zu wechseln. Später mussten sie als Fädlikinder gerissene Fäden verknüpfen. Für solche Tätigkeiten waren kleine Körper ideal, gross war die Unfallgefahr. Kleingedruckt präzisiert dies eine Bildlegende: «Da Schuhe zu teuer waren, mussten die Kinder bei laufender Maschine barfuss auf die Spinnmaschine klettern, um die Spulen auszutauschen. Zudem waren die Antriebe ungeschützt, was immer wieder zu schweren Verletzungen führte.» Zitiert wird auch hier die Erzählung von Olga Meyer, etwa Annelis erstes Erschrecken, als es am zugewiesenen Arbeitsort seiner Freundin zusieht: «Babettli! Babettli! Im letzten Augenblick huschte dieses unter dem Fadendach hervor.» Der breite und schwere Maschinenwagen schnellte zurück. Babettli lächelte überlegen. «Ich bin es mich gewöhnt. Aber du musst in der ersten Zeit gut aufpassen. Der Wagen könnte einen erdrücken.»

Dass so viele Kinder in die Fabrik kamen, hing auch damit zusammen, dass Arbeiterinnen froh waren, diese mitnehmen zu können, wird angemerkt. Wer sollte sie sonst hüten? Das war bei der Heimarbeit noch anders. Jetzt hatten sich alle dem «Diktat der Arbeitsglocke» zu fügen. Hinzu kamen oft lange und zumal im Winter beschwerliche Wege. «Unterhosen trugen wir keine», so eine Spinnerin, die als Kind zwischen Rüti und Wald gearbeitet hatte. «Die einzigen Kleidungsstücke waren ein Rock und ein Umtuch, im Winter Strümpfe und ein Paar Schuhe.» Die im Buch direkt darunter platzierte Zeichnung passt wie die Faust aufs Auge: Hier marschiert eine fünfköpfige Familie mit Jux-Visagen, der Vater voran, die Mutter mit dem Kleinsten im Arm, der Grössere trägt das Kesselchen mit dem Essen. Es ist einer der (zu) vielen «einzigartigen Cartoons», die sich durch die Dokumentation ziehen. Schon den Storch auf dem Cover, der als Geburtshelfer einer besseren Zeit die Fabrik ins Land trägt, fand ich doof, später sogar zynisch. Auf der letzten Seite, wo die Herausgeber der Kulturkommission Zürcher Oberland sowie weiteren Sponsoren «für die grosszügige Unterstützung» danken, darf das Tier nochmals fliegen. Nun steigt Rauch aus dem Schlot.

Poppig positive Pioniernostalgie

Schade, dass damit das Ganze auf locker-poppig getrimmt wird. Oft verunstalten die wohl als Farbtupfer gedachten Witzfiguren gar alte Karten und Schwarzweissaufnahmen. Doch diese Gestaltung ist auch typisch: Wo immer eine klare sozialhistorische Analyse wunde Punkte antippt, ein Hauch von Gesellschaftskritik aufkommt, wird zügig eine Wende zum Positiven gesucht. Die frühen Unternehmer bleiben Pioniere, allenfalls Pa-triarchen. Adolf Guyer-Zeller brilliert nicht nur als Textilindustrieller, er bescherte auch Eisenbahnen, liess Wanderwege anlegen. Caspar Honegger, dem «Weberkönig», wird im Untertitel augenfällig sein «Einsatz für das Wohl der Arbeiterinnen und Arbeiter» angerechnet. Wirklich schlecht weg kommt eigentlich nur Heinrich Kunz, dem auch hier «fehlendes Interesse an sozialen Fragen» attestiert wird. Er habe «seine Arbeiter, darunter auch viele Kinder», als knallharter Geschäftsmann «regelrecht» ausgebeutet. War damit aber erfolgreich. Anerkennung für Konsequenz sogar hier: «Zur Ernährung sollen ihm eine Handvoll Nüsse und ein Glas Wasser genügt haben. Dies musste auch für seine Arbeiter reichen.» Bei aufkommenden bildungspolitischen Forderungen war für den zeitweilig im Zürcher Kantonsrat sitzenden Oberstleutnant klar: «Die Schule können die Kinder am Sonntag besuchen, bei mir wird während der Woche gearbeitet.»

Es braucht auch den 1. Mai …

Mit dem Ustertag und einem «Maschinensturm» werden zwar auch vor bald 200 Jahren im Oberland aufgebrochene Stadt/Land- und soziale Konflikte thematisiert, aber organisierte Ansätze von Arbeitskämpfen, das Entstehen und Wachsen von Gewerkschaften kommen in beiden Büchern kaum vor. Und so braucht es nach dem Workers Memorial Day den 1. Mai, um an den harten Prozess einer Humanisierung der Arbeit sowie die global ausstehende Abschaffung brutalster Ausbeutung zu erinnern.

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