Zürich in der grossen Bauperiode

Die Kaskade von Neuerfindungen und Krisen auf dieser Welt hält uns dermassen auf Trab, dass die Gestaltung unseres Lebensraums – der Städtebau – aus dem Visier zu geraten droht. Das könnte leicht mit den zur Revision anstehenden Hochhausrichtlinien geschehen. 

Der deutschsprachige Ausdruck «Städtebau» suggeriert etwas irreführend den Bau von neuen Städten, während das englische «Urbanism» richtigerweise den professionellen Umgang mit der Stadt meint. «Stadtbaukunst» steht für gute und lebenswerte Städte, kursiert seit Jahrhunderten und ist immer wieder durch Publikationen weitergeführt worden – auch über die Zeit von Königen und Kaisern hinaus. Städtebau handelt längst genauso vom Sozialen wie vom Ästhetischen. Wobei das letztere hierzulande ganz gross unterschätzt wird, obwohl es massgeblich zum allgemeinen Wohlbefinden beiträgt. Wir sollten uns zwei Fragen zur Gegenwart stellen: 

  • Zum Ästhetischen: Wem gefällt das seit 2001 gewachsene ‹Stoppelfeld› von Hochhäusern in Zürich West und Nord? 
  • Zum Sozialen: Soll das Hors-Sol-Wohnen in Wohnsilos unsere Zukunft sein?

Wo stehen wir? 

Zürich erlebte seine erste ‹grosse Bauperiode› Ende des 19. Jahrhunderts, umarmte den See mit den Quaianlagen und wurde mit der Vielzahl von neuen Bauten zur schönen Stadt. Ob wir uns gegenwärtig in der zweiten oder dritten grossen Bauperiode befinden, sei hier offengelassen. Klar ist, dass Emil Klöti mit seinem internationalen Städtebauwettbewerb für Zürich um 1915 und den daraus hervorgegangenen qualitätsvollen Stadterweiterungen bedeutend war. In enger Verbindung mit dem See und den Hügelzügen hat die Stadt inzwischen beachtliches Tafelsilber zusammengetragen, das uns zur Fortsetzung ermuntert. In diesem Rahmen muss die grösste Herausforderung der nächsten Zeit, die anstehende Revision der Hochhausrichtlinien, ins Gespräch kommen. 

Es ist eminent politisch, ‹wer› die Entwicklung einer Stadt ‹wie› handhabt. 

Beginnen wir deshalb mit dem Auftreten von neuen Playern, die es zuvor nicht gab. Im März 2023 haben gleich zwei grosse Totalunternehmer ihre Absichten bekanntgegeben. Der CEO von Implenia will seine Firma auf das lukrative und teure Hochhaus ausrichten (NZZ, 2. März, S. 22). Der CEO von Halter hat sich darüber beklagt, seinen schweizweiten Hochhausplänen stellten sich alte Architekten und junge Sozialraumplaner entgegen (Handelszeitung, 18. März). Weil Hochhäuser in der Erstellung 20-40 Prozent teurer sind und die Mieten sich ähnlich verhalten, führen sie zwangsläufig zur Gentrifizierung, was völlig am Bedarf für bezahlbare Wohnungen vorbeigeht. Wollen wir, dass Totalunternehmer einzig des für sie lukrativen Geschäftsmodells wegen unsere Schweizer Städte mit Hochhäusern verstellen? Und wie steht es mit den Baubehörden? Lassen sie sich von diesen Kräften treiben oder gelingt es ihnen im Interesse der Bewohnerschaft, die Bauproduktion in den Dienst einer lebenswerten Stadt zu stellen? Formen oder geformt werden, das ist hier die Frage.  

Dass das Hochhaus für die Stadtentwicklung eine veraltete Medizin ist, mag 2001, als Zürich die Hochhausgebiete erliess, noch nicht mit Eindeutigkeit festgestanden haben. Doch die weltweiten Abbrüche von Hochhaussiedlungen von St. Louis über Glasgow, Berlin/Marzahn bis Paris/Courneuve waren längst Tatsache. Sie finden rechts unten zwei Links zum Thema: Erstens das für Zürich höchst aktuelle Papier «Decoupling Density from Tallness» aus der Forschung der Universitäten Cambridge (UK) und Boulder Colorado (USA). Es weist wissenschaftlich nach, dass Dichte und Gebäudehöhe nicht zwingend zusammenhängen und die dichtesten Städte ohne das Hochhaus entstanden sind.  Zweitens finden Sie in Form eines Films die frühe Warnung des amerikanischen Architektursoziologen Oscar Newman vor den Nachteilen des Hochhauswohnens. Dass da Kriminalität oft als Massstab vorkommt, hat mit New York zu tun und ist mit Bezug auf unsere Verhältnisse beim Anschauen des Films wegzustecken. Zusammen mit den neuen Problemstellungen des Klimawandels und des Hitzestaus in den Städten ist die Lage inzwischen klar geworden: Das Hochhaus hat seine Berechtigung verloren. 

Bei uns kursiert immer noch die Mär, mit Hochhäusern könne verdichtet werden. 

Die grosse Mulde der Innenstadt von Paris weist – ohne Hochhäuser – etwa die vierfache Einwohnerdichte von Zürich auf. Ähnliches gilt für Barcelona. Man fragt sich erstens, warum die Stadt Zürich immer noch auf Hochhäuser setzt. Und zweitens, warum das Hochbaudepartement mit der Revision der Hochausrichtlinien – entgegen aller Erkenntnisse der Zeit – den Hochhausbau sogar noch intensivieren will. Besonders störend sind die vorgeschlagenen Quadratkilometer von neuen 40-Meter-Zonen. In Zürichs Norden sollen sie sich von Affoltern über Oerlikon, Seebach bis nach  Schwamendingen erstrecken. Ebenso in Albisrieden bis in dessen Hanglagen hinauf. Es sei auch auf die 3,5 Kilometer lange ‹Dubai-Zone› mit unlimitierter Bauhöhe zwischen Limmat und Gleisfeld hingewiesen.

Ist eine ‹Stachelstadt› heute noch sinnvoll?

Wir sprechen in diesem Abschnitt über Energie und Hitzestau in Städten. Die neuen Wohntürme an der Hohlstrasse dienen als Anschauungsmaterial. Im Sommer heizt alleine schon der 300 Meter breite Gleiskörper. Dazu kommen die Gebäudefassaden, die die schattenspendenden Bäume der Hohlstrasse bei Weitem überragen. Man kann von Zementburgen sprechen, die die Wärme speichern und als Strömungshindernisse auch noch die Luftzirkulation innerhalb der Stadt behindern. Die Vorstellung, dass die Gebäudefronten der 80-Meter-Hochhauszonen beidseits der Gleise zusammen mit diesen einen Hitzekanal bilden, lässt Zweifel an den Hochhausrichtlinien aufkommen. 

Nur Fassaden, die wie in Paris oder Odessa bei den Bäumen bleiben, profitieren vom Sommerschatten. In Paris sind es 5 ½ Etagen. Aus «Baum & Haus» lässt sich klimagerechtes Stadtgewebe flechten.

Ein anderer Aspekt ist die Frage nach der optimalen Gestalt eines Stadtkörpers als Ganzes. Günstig sind Bausteine (die Gebäude), die im Verhältnis zur Oberfläche einen grossen Inhalt haben. Das ist idealerweise die Kugel. Aber auch Würfel und andere gedrungene Körper sind günstig, jedoch nicht die aufragenden ‹Stacheln›. Aus energetischen und klimatischen Gründen muss ein Stadtkörper im Vordergrund stehen, der sich aus gedrungenen Bauten zusammensetzt und nicht eine ‹Stachelstadt›. Sie ist wohl die energetisch denkbar schlechteste Volumetrik eines Stadtkörpers. Gefragt ist ein energetisch und klimatisch optimiertes Paris, München oder Kopenhagen, aber kein weiteres Manhattan.

Die Korrektur ist ganz einfach 

Da neue Hochhausrichtlinien prinzipiell zu hinterfragen sind, braucht es jetzt die Emanzipation aller Betroffenen. Sorgen wir doch auf dem politischen Weg dafür, dass stadtschädigende Bauinvestitionen ein Ende finden und der Weg zu einer dichten, lebenswerten und stark durchgrünten Stadt frei wird. Eine andere Stadt in Europa ist schon vorausgegangen: Dresden hat Ende letzten Jahres die «Gestaltungsleitlinie für Architektur und Stadtraum» erlassen. 

Zum Schluss die gute Nachricht 

Die Hochhausrichtlinien sind noch nicht genehmigt; sie können also noch abgelehnt werden. Nach der allgemeinen Vernehmlassung über die Jahreswende kommen sie bald zur Beratung in die gemeinderätliche Kommission und danach in den Gemeinderat. Konstruktiv wäre, gleichzeitig mit der Ablehnung die Formulierung eines klimagerechten Zürcher Städtebaus beim Hochbau­departement zu beantragen.

*Heinz Oeschger ist Architekt ETH und setzt sich in Zürich für eine sinnvolle Stadtentwicklung ein.

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