Im Grunde gut?

Zu Beginn des Lockdowns habe ich aus Spass Pandemiefilme angeschaut, bis es mir dann zu unheimlich wurde. Das Muster ist da immer gleich: Kaum kommt die Katastrophe, drehen die Menschen kollektiv durch. Plündern und Brandschatzen, Chaos und Gewalt. Der Firnis der Zivilisation ist dünn. Man kennt dieses Motiv auch aus der Literatur wie in William Goldings «Herr der Fliegen», wo eine Gruppe von Buben auf einer einsamen Insel strandet und in Gewalt abdriftet. Man kennt es aber auch aus berühmten sozialpsychologischen Experimenten wie dem Stanford-Prison-Experiment, wo mit Studierenden eine Gefängnissituation simuliert wurde. Das Experiment musste abgebrochen werden, weil es zu sehr eskalierte. Der Mensch ist also eine Bestie, nur mit Mühsal gezähmt. 

Der holländische Journalist Rutger Bregman sieht dies anders. Im Buch «Im Grunde gut – eine neue Geschichte der Menschheit» dekonstruiert er falsche Überlieferungen und fehlerhafte Experimente. In Krisensituationen käme laut Bregman nicht das Schlimmste, sondern oft das Beste in den Menschen hervor: Solidarität, Hilfsbereitschaft und Gemeinsinn. Im bombardierten London im Zweiten Weltkrieg habe nicht Panik geherrscht sondern Gemeinschaftsgefühl. Untersuchungen zeigen, dass die Mehrheit der Soldaten in den beiden Weltkriegen ihre Waffe gar nicht abgefeuert und wenn, dann absichtlich in die Luft geschossen hätten. Es gab auch die Geschichte einer realen Bubengruppe, die auf einer einsamen Insel gestrandet und erst nach einem Jahr gerettet wurde. In guter Gesundheit und tiefer Freundschaft. Beim Gefängnisexperiment von Stanford wurde laut Bregman die Situation vom Experimentsleiter manipuliert, die Wärter angeleitet, sich sadistisch zu verhalten. Eine britische Fernsehstation wollte dieses Experiment einmal wiederholen. Das Resultat war Gift für die Einschaltquoten, denn Wärter und Gefangene verstanden sich prima.

Ob Menschen im Grunde gut oder schlecht sind, ist eine alte Frage. Wie sich Menschen in Krisen verhalten, konnten wir jetzt im Lockdown gut beobachten. Natürlich gab es ein paar Klopapier-Hamsterkäufe zu Beginn, aber grossmehrheitlich wurden die Regeln problemlos befolgt. Eine Solidaritätswelle brach aus, Nachbarschaftshilfen wurden gegründet, es wurde auf den Balkonen geklatscht. 

Hat Bregman also Recht? Und wieviel ist von dieser Stimmung geblieben? Auch in der Flüchtlingskrise 2015 gab es zu Beginn viel Hilfsbereitschaft. Doch irgendwann schien die Stimmung zu kippen. Ist dies auch bei Corona der Fall? Am vergangenen Wochenende demonstrierten 40 000 Menschen in Berlin und etwa tausend in Zürich gegen die Corona-Massnahmen. Ist das eine laute Minderheit oder der Beginn eines Stimmungswandels? Die einen finden, dass man die Bedenken dieser Minderheit ernst nehmen soll. Die anderen glauben, dass dies alles Spinner sind. Diese Dichotomie ist zu einfach. Natürlich ist nicht jeder ein Spinner, der nicht alle Massnahmen sinnvoll findet. Auf der anderen Seite muss man – wenn man mit Spinnern und Rechtsradikalen demons­triert – sich auch nicht wundern, wenn man in diese Ecke gestellt wird.

Klar ist: Wir sind in einer historisch aussergewöhnlichen Situation mit vielen Unsicherheiten und Unbekannten. Es liegt in der Natur der Sache, dass in einem solchen Prozess Einschätzungen ändern können. Es ist auch so, dass jede Massnahme immer eine Abwägung erfordert. Dass Masken schützen war zu Beginn der Pandemie weniger klar als heute. Ein Besuchsverbot im Altersheim hat hat soziale Folgen, die es auch zu berücksichtigen gilt. Hier liegt die Schwierigkeit von behördlichem Handeln, dass man letztlich Sicherheit trotz Unsicherheit vermitteln muss.

Der Reiz von Verschwörungstheorien liegt daran, dass sie Erklärungen bieten und damit Sicherheit. Muster im Chaos, Ziele statt Hilflosigkeit. Ich war als Studentin einmal aus Neugier an einer Esoterikmesse und habe auch einen Artikel über Verschwörungstheorien geschrieben. Auch damals war die Nähe von gewissen esoterischen Kreisen und Rechtsaussen offenkundig. Was mir auch auffiel: Die verschiedenen Theorien schliessen sich gegenseitig nicht aus. Im Gegenteil: Sie ergänzen sich. Wer also daran glaubt, dass eigentlich die Illuminaten die Welt regieren, ist auch überzeugt, dass Impfungen Autismus auslösen. 

Mit QAnon gewinnt eine neue Verschwörungstheorie an Beliebtheit.  Diese glaubt, dass eine internationale Elite Kinder kidnappt, um diese sexuell auszubeuten und deren Blut abzuschröpfen, um ewiges Leben zu erlangen. Einzig Trump kämpfe dagegen an… Nun klingt dies ziemlich abstrus. Doch bereits gibt es 19 republikanische Kandidierende für den Kongress, die sich auf QAnon berufen. Auch in Berlin und Zürich tauchen die Q-Signete an den Corona-Demos auf. Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo glaubt, dass der Ikea-Effekt hier eine Rolle spielt. Der Ikea-Effekt ist aus der Verhaltensökonomie und besagt, dass Menschen ein Möbel für wertvoller halten, wenn sie selbst daran mitgebaut haben. Je mehr Energie man also in etwas steckt, desto mehr will man auch, dass es sich gelohnt hat. Und genau dieser Effekt spielt  im Internet und in den sozialen Medien. Es wird keine Theorie einfach vorgesetzt, man muss sie sich erarbeiten. Diese Arbeit mag nicht viel sein: Etwas googlen, ein paar Videos auf Youtube, aber durch den verstärkenden Mechanismus des Algorithmus geraten Suchende an immer mehr Informationen, die wieder das Vorhergehende bestärken und so immer weiter in das Kaninchenloch hinein. 

Diskussionen und Faktenchecks sind hier müssig. Denn ExpertInnen und vermeintliche Fakten gibt es überall zu Hauf. So werden die Erkenntnisse von WissenschaftlerInnen stets mit anderen Wissenschaftler­Innen zu widerlegen versucht. Und so sind wir schnell im Reich der alternativen Fakten, wo Wissen zu Meinungen wird. Und eine Meinung darf schliesslich jeder haben. Wir sind ja nicht in der Diktatur. Das Grundproblem betrifft aber alte und neue Medien gleichermassen: In der Medienlogik wird das Aussergewöhnliche, die Katastrophe, das Schrille belohnt. Good News are no news. Die Medienkrise verstärkt diesen Effekt. Dies führt auch beispielsweise dazu, dass MedienkonsumentInnen die Kriminalitätsrate als viel höher einschätzen, als sie real ist.  

Die Menschheit ist im Grunde gut, meint Rutger Bregman. Und wohl auch vernünftig. Aber eine kleine Minderheit kann einen grossen Effekt haben. Wenn man sie anstachelt. Es braucht jetzt etwas weniger Aufmerksamkeit für jene, die nach Aufmerksamkeit schreien. Dann sollten wir diese Lage meistern können. Im Guten. 

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