«Ich habe eine Affinität für Menschen, die aus dem Rahmen fallen, weil sich das Leben nicht einrahmen lässt»

Nach 20 Jahren tritt Christoph Sigrist als Grossmünsterpfarrer zurück. Sigrist galt als unkonventioneller Pfarrer: Er organisierte Raves in der Kirche, predigte an der Streetparade und vermählte sehr früh schon queere Paare. Im Gespräch mit Noëmi Laux spricht er über seinen Glauben, die Kraft des Urvertrauens und die Bedeutung von Gemeinschaft. 

Wie fühlt es sich an, gläubig zu sein?

Christoph Sigrist: Glaube ist schwer in Worte zu fassen, da er sich in verschiedenen Situationen unterschiedlich zeigt. Aber ich erinnere mich an eine prägende Begegnung mit meinem Vater, als ich etwa sieben Jahre alt war. Wir waren auf dem Üetliberg während eines heftigen Gewitters. Seine Worte, «es kommt schon gut», wurden für mich zum Sinnbild meines Glaubens.

Bedeutet Glaube für Sie also Optimismus?

Ich würde eher von Urvertrauen sprechen. All die Erfahrungen, die mit Urvertrauen abrufbar sind, verknüpfen den Glauben mit dem Empfinden zu Gott.

Wie halten Sie an diesem Urvertrauen fest, während so viel menschliches Leid auf der Welt passiert?

In diesem Kontext erinnere ich mich wieder an einen prägenden Moment mit meinem Vater. Mein Vater war ein sehr frommer Mann und verstarb, als ich 17 Jahre alt war. Etwa einen Monat vor seinem Tod rief er mich zu sich und gestand mir, dass er nicht mehr an Gott glauben könne und verzweifelt sei, ob es Gott überhaupt gebe. Ich war schockiert, als er mir das erzählte. Doch dann sagte er zu mir: «Schau, jetzt musst du für mich glauben.» Dieser Satz wurde für mich zu einem Schlüssel, der mir hilft, an meinem Urvertrauen festzuhalten.

Was sagt uns diese Geschichte?

Sie verdeutlicht, dass Glaube aus der Gemeinschaft heraus entsteht. Mir als gläubigem Menschen kann genauso Schlimmes widerfahren, der Boden unter den Füssen weggezogen werden. Wenn ich selbst gerade keinen Zugang zu meinem Urvertrauen habe, dann hat es stellvertretend jemand anderes. Und das entlastet. Daher ist Kirche allein nicht lebbar, sondern hat in sich den Resonanzraum einer Gemeinschaft.

Viele Menschen finden aus einer Krise heraus zum Glauben, nach einer Krankheit oder wenn sie einen wichtigen Menschen verloren haben. Warum ist das so?

Das liegt in der DNA von ihrem Menschsein. Niemand konnte zu Beginn Ja sagen zum Leben, wir wurden einfach geboren. Es ist die Lebensaufgabe eines jeden Menschen, für sich persönlich ein Ja zu finden. Der Glaube kann dabei helfen, weil er Orientierung schafft. Metaphorisch lassen sich Religionen mit einem Haus, bestehend aus drei Bausteinen, vergleichen. Der erste Baustein ist der Mythos, der die Frage nach unserer Herkunft beantwortet. Der zweite Baustein ist das Ritual, das uns hilft, unsere Identität zu erkennen. Und der dritte Baustein ist die Ethik, die uns klare Werte vermittelt und uns anleitet, ein anständiges Leben zu führen.

In Ihrem Amt als Pfarrer sind Sie auch als Seelsorger tätig, hören Menschen zu, die sich in einer Krise befinden. Mit welchen Anliegen kommen die Menschen zu Ihnen?

Die meisten Menschen, die zu mir ins Gespräch kommen, verspüren einen grossen Druck in der Seele. Die Anliegen, die sie mit mir teilen, sind wiederum ganz unterschiedlich. Sie reichen von Liebeskummer, einer Sinnkrise bis hin zu heftigen Schicksalsschlägen wie dem Tod eines:einer Angehörigen oder einer Krankheit. 

Was macht eine:n gute:n Zuhörer:in aus?

Es braucht dafür gar nicht so viel: Am wichtigsten ist es, präsent zu sein. Das klingt sehr einfach und doch fällt es vielen Menschen schwer, in Gesprächen mit der Aufmerksamkeit wirklich voll da zu sein. Das ist aber Voraussetzung, damit sich jemand gesehen sieht und sich wohl genug fühlt, sich zu öffnen.

Wie helfen Sie den Menschen, die zu ihnen in die Seelsorge kommen? Geben Sie ihnen konkrete Ratschläge?

Ich gebe höchst selten Ratschläge. Die meisten wollen das auch gar nicht. Was sie brauchen, ist jemand, der ihnen zuhört und sie dort abholt, wo sie gerade stehen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es vielen, die sich in der Not an mich wenden, die Stimme verschlagen hat. Sie kommunizieren verschlüsselt. Meine Aufgabe ist es, herauszufinden, was wirklich hinter den Problemen liegt und einen Vertrauensraum zu schaffen, damit sich mein Gegenüber wohlfühlt und schliesslich die Seele öffnet.

Sie arbeiten also wie ein Psychotherapeut?

Ja, in gewisser Weise haben wir beide mit der Psyche und der Seele des Menschen zu tun. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass ich nicht auf eine psychotherapeutische Lehre oder Ausbildung zurückgreife. Meine Herangehensweise besteht darin, den Menschen so zu erfassen, wie er mir in seiner Individualität begegnet. Ich arbeite viel mit meiner eigenen Persönlichkeit, vertraue meinem Bauchgefühl und antizipiere oft die Situationen.

Nach 20 Jahren hören Sie diesen Monat als Grossmünsterpfarrer auf. Warum?

Aus drei Gründen: Erstens möchte ich einer jungen Kraft Platz machen, dann will ich mich fokussieren aufs Lehren und drittens gehe ich jetzt noch mit Freude und nicht verbittert. Das finde ich ein Geschenk, das nicht selbstverständlich ist. 

Sie betonen, wie wichtig es ist, loslassen zu können. Warum ist Loslassen so wichtig?

Ich predige immer, Loslassen ist das Geheimnis des Lebens. Nur indem man es schafft, loszulassen, bekommt man überhaupt Leben. Das ist auch das Erste, was ein Säugling lernt: Loslassen von der Mutter. Aber auch sonst ist das Loslassen wichtig. Wir predigen das nicht nur an einer Beerdigung. Auch wenn eine Mutter ein Kind bekommt, muss sie loslassen. Oder wenn man beschliesst, keine Kinder haben zu wollen, ist das ein Prozess des Loslassens. Während meiner Zeit als Seelsorger in der Armee habe ich festgestellt, dass Männer, die etwa im Job eine gewisse Bedeutung haben, mehr Mühe haben loszulassen. Auch deshalb habe ich mir gesagt, doch, ich lasse jetzt los. 

Welche Gefühle, abgesehen von der Freude, schwingen sonst noch mit, wenn Sie an Ihren letzten Gottesdienst am 3. März denken?

Wehmut, sehr viel Wehmut. Schliesslich habe ich diesen Beruf sehr gerne und sehr lange ausgeübt. 

Sie wollen sich jetzt dem widmen, was Sie gelernt haben, um es in Ihren eigenen Worten zu sagen: dem Helfen. Wie helfen Sie nach ihrer Karriere als Pfarrer und wem? 

Das Helfen hat für mich verschiedene Facetten. Institutionell werde ich weiter als Seelsorger tätig sein, ich bin im Vorstand von Solidara, wo ich mich für Obdachlose einsetze, sowie im Stiftungsrat des Hilfswerkes der Evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS). Abgesehen davon liegt es wohl auch in meiner DNA, spontan zu helfen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ich treffe immer wieder auf denselben Mann, der jeden Tag am selben Ort steht und Surprise-Magazine verkauft. Jedesmal kaufe ich ihm eines ab und unterhalte mich kurz mit ihm. Begegne ich ihm dreimal am Tag, kaufe ich drei Hefte und bin ich im Stress, nehme ich mir dennoch ein paar Minuten Zeit, um zu reden. Da bin ich sehr konsequent, was der Mann sehr schätzt. Nicht einmal in erster Linie wegen der verkauften Exemplare, sondern weil ich ihm durch meine Aufmerksamkeit würdevoll entgegentrete. Das ist für mich ein zentraler Punkt. Zu helfen erlebe ich dann als gelungen, wenn sich die andere Person in seiner/ihrer Würde wieder entdecken kann. 

Wie lernt man eigentlich zu helfen?

Helfen liegt in der DNA eines jeden Menschen. Wenn ein Kind schreit, schaust du dich automatisch um. Wir denken oft, dass wir das bewusst machen, doch vieles passiert automatisch und wird erst im Nachhinein mit Bedeutung aufgeladen. Spannend finde ich die Frage, wie wir in der urbanen und hochkomplexen Gesellschaft, in der wir leben, richtig helfen.

Wie hilft man denn richtig? 

Richtige Hilfe setzt voraus, dass man sich mit den eigenen Werten auseinandersetzt und diese hochhält. Der Antrieb darf nicht paternalistischer Natur sein. Es wäre kontraproduktiv, wenn die Person, der man hilft, eine Abhängigkeit entwickelt oder das Gefühl hat, in der Schuld zu stehen. Das ist nicht ganz einfach, denn das Helfen an sich setzt ein gewisses Ungleichgewicht voraus. Deshalb ist es wichtig, sich selbst und die Situation zu reflektieren. Sind sie einem erst einmal bewusst, finde ich die Asymmetrien beim Helfen hoch spannend. Wobei jede Biografie geprägt ist von Asymmetrien. 

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wenn Sie als Journalistin neu irgendwo anfangen, sind Sie am Anfang angewiesen auf Personen, die das Unternehmen bereits kennen und Ihnen die Abläufe und das System zeigen. Sind Sie erst einmal eingearbeitet, arbeiten Sie die nächste Person ein und werden so von der Person, die Hilfe in Anspruch nimmt, zu jener, die hilft. Sich darüber bewusst zu werden, schafft professionelle Distanz. 

Sie galten als unkonventioneller Pfarrer, haben Wege gesucht, die Räumlichkeiten der Kirche auch anders zu nutzen – zum Beispiel zum Tanzen. Sie haben an der Streetparade gepredigt und sehr früh schon queere Paare vermählt. Warum haben Sie mit den geltenden Normen gebrochen?

Das ist mein Typ, so bin ich einfach. Und dahinter steht, dass das Christentum ständig in der Spannung liegt zwischen Charisma und Institution, das reibt sich ständig. Wie Lava – ich komme schnell auf Temperatur und wenn es dann abkühlt, wird es zur Institution. Zwar biete ich mehr Reibungsfläche als andere, aber gleichzeitig braucht es Menschen wie mich, damit wir vorwärtskommen. Ich habe eine Affinität für Menschen, die aus dem Rahmen fallen, weil sich das Leben nicht einrahmen lässt.

Während Sie bald Ihren letzten Gottesdienst predigen, hat Ihr Sohn gerade seine erste Stelle als Pfarrer angenommen. Was hoffen Sie, ihm mitgegeben zu haben?

Das Feuer. 

Und in welchen Punkten hoffen Sie, dass er es anders machen wird als Sie?

Beim Zeitmanagement. Das muss er wirklich besser machen als ich.

Zur Person

Christoph Sigrist, geboren 1963 in Zürich, ist Pfarrer, Diakoniewissenschaftler und Autor. Nach seinem Studium der Evangelischen Theologie in Zürich, Tübingen und Berlin diente er als Pfarrer in Stein SG und an der Stadtkirche St. Laurenzen in St. Gallen. Seit 2003 ist er Pfarrer am Grossmünster in Zürich. Neben seiner pastoralen Arbeit war Sigrist von 1990 bis 2014 Armeeseelsorger in der Schweizer Armee. Seit 2009 ist er Dozent in Lehre und Forschung der Diakoniewissenschaft an der theologischen Fakultät der Universität Bern und seit August 2018 Titularprofessor für Diakoniewissenschaft an der Berner Fakultät. Sigrist ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen.

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