«Lieber weniger arbeiten statt mehr Lohn»

Die Abstimmung sorgt für Aufsehen weit über das Säuliamt hinaus: Am 3. März entscheidet Affoltern, ob die 350 städtischen Angestellten bei gleichem Lohn nur noch 38 statt 42 Stunden arbeiten müssen. SP-Präsident Martin Gallusser vom Ja-Komitee von SP, EVP und GP erklärt, warum die Arbeitszeitreduktion gegen die Personalnot hilft und kontert die Argumente der Gegner. Und er verrät im Gespräch mit Arthur Schäppi auch, warum die Befürworter trotz Niederlage an der Gemeindeversammlung an einen Abstimmungssieg glauben.

Martin Gallusser, die Forderung nach einer Arbeitszeitreduktion ist normalerweise ein Anliegen der Linken. In Affoltern am Albis aber ist es der Stadtrat, der mit der aktuellen Abstimmungsvorlage die Arbeitszeit bei gleichbleibendem Lohn um vier Stunden senken will. Affoltern würde so zur ersten Gemeinde im Kanton mit 38-Stunden-Woche. Tickt der Säuliämtler Bezirkshauptort anders als der übrige Kanton?

Martin Gallusser: Die Stadt Affoltern leidet unter einem anhaltenden Personal- und Fachkräftemangel. Das war schon so, als ich bis 2022 noch selber dem Stadtrat angehört hatte und hat sich seither weiter verschärft. Da unterscheidet sich Affoltern kaum von vielen andern Zürcher Gemeinden. Im Vergleich etwa mit der Stadt Zürich und finanzstarken Gemeinden aber sind unsere Medianlöhne – je nach Berufsprofil – um 5 bis 25 Prozent tiefer. In dieser Situation verfolgt der Stadtrat nun nach Ansicht unseres Ja-Komitees von SP, GP und EVP tatsächlich eine sehr innovative, mutige und zukunftsweisende Strategie. Statt etwa einfach die Löhne pauschal um 10 Prozent anzuheben, um auf dem Arbeitsmarkt halbwegs mithalten zu können, will er die Arbeitszeit entsprechend verkürzen. Und das ist in der heutigen Zeit für viele Arbeitnehmer:innen ungleich attraktiver. Profitieren könnten nebst den rund 180 Angestellten im öffentlichen Dienst auch die 170 Mitarbeiter:innen im städtischen Pflegeheim Seewadel. Ausgeschlossen wären einzig die Lehrer, die vom Kanton entlöhnt werden.

Was konkret bringt denn die 38-Stunden-Woche der Stadt und ihren Angestellten?

Affoltern kann sich mit der 38-Stunden-Woche als Alleinstellungsmerkmal als fortschrittliche, personalfreundliche und attraktive Arbeitgeberin positionieren. Und würde gegenüber finanzstärkeren Gemeinden konkurrenzfähiger und läge zudem voll im Trend. Denn für viele, vor allem jüngere Angestellte ist eine kürzere Arbeitszeit wesentlich attraktiver als eine Lohnerhöhung. Ein freier Nachmittag käme etwa Müttern und Vätern sehr entgegen. Damit könnten vakante Stellen wieder besetzt werden – und zwar auch längerfristig, weil zufriedenes Personal auch länger bleibt. Profitieren würde auch das städtische Pflegeheim Seewadel, zumal im Pflegebereich Stress und Belastung und damit die Personalfluktuation besonders gross sind. Denn kürzere Arbeitszeit bedeutet auch längere Erholungszeit. Und mehr Personal mit kleineren Pensen ermöglicht zudem eine flexiblere Einsatzplanung.

Ist eine Arbeitszeitverkürzung in Zeiten von Fachkräftemangel nicht eher kontraproduktiv? Arbeiten die Leute weniger lang, muss doch noch mehr Personal gesucht werden.

Heute haben rund 60 Prozent der Angestellten einen Vollzeitjob bei der Stadt. Sie könnten von den kürzeren Arbeitszeiten profitieren oder erhielten andernfalls eine entsprechende Lohnerhöhung. Die Stadt geht längerfristig von etwa 35 zusätzlichen Mitarbeiter:innen aus. Bei diversen Firmen oder auch Gesundheitsorganisationen, welche die reduzierte Wochenarbeitszeit bereits eingeführt haben, aber hat sich bestätigt, dass damit letztlich leichter Personal gewonnen und auch gehalten werden kann. Das gilt etwa auch für das Spital Wetzikon. So können Aufwendungen für die Personalsuche und -einarbeitung reduziert werden. Ebenso für Temporärpersonal, wofür Affoltern etwa 2022 rund 1,2 Millionen Franken ausgab.

Im letzten Dezember hat die Gemeindeversammlung schon mal mit wuchtigem Mehr 1,1 Millionen Franken, die der Stadtrat für die Einführung der 38-Stunden-Woche zwischen Juli und Dezember 2024 ausgeben wollte, aus dem Budget gestrichen. Um im Hinblick auf die nun anstehende Urnenabstimmung «ein Zeichen zu setzen», wie es hiess. Wie will das Ja-Komitee da das Blatt noch wenden?

An der damaligen Versammlung nahmen 200 Personen teil, was gerade mal 2,8 Prozent der Stimmbürger entspricht. Mobilisiert hatten vor allem das Gewerbe und weitere Gegner. Und die Streichung hat ohnehin höchstens ein bisschen Symbolcharakter. Effektiv entschieden wird jetzt per Volksabstimmung an der Urne. Auf das zweifelsohne grosse Informationsbedürfnis der Bevölkerung haben wir seither mit einem gut besuchten Informationsabend und einer sachlichen Kampa­gne mit guten Argumenten reagiert. Wir sind daher zuversichtlich, dass wir die Abstimmung gewinnen können.

Die bürgerlichen Gegner warnen vor den von der Stadt veranschlagten Mehrkosten von jährlich 2,3 Millionen Franken oder 9,5 Prozent. Als finanzschwache Kleinstadt, die fast 20 Millionen Finanzausgleich bezieht, könne sich Affoltern das nicht leisten.

Die Frage, ob wir uns einen höheren Personalaufwand leisten können, stellt sich so eigentlich gar nicht. Wir sind schlicht – in welcher Form auch immer – dazu gezwungen. Anders lassen sich die offenen Stellen nicht besetzen – und könnte die Stadt ihre Aufgaben nicht mehr richtig wahrnehmen. Die Mehrkosten sind angesichts eines Budgetüberschusses von 6,4 Millionen Franken für 2024 auch finanzierbar und haben mit dem Finanzausgleich nichts zu tun.

Arbeitgeber befürchten wegen der Stadt unter Zugzwang zu geraten. Die KMU in der Region, wo heute 42 bis 43 Stunden gearbeitet werde, könnten eine 38-Stunden-Woche nicht verkraften, klagen sie.

In Zeiten des Fachkräftemangels muss sich sicher auch das Gewerbe etwas einfallen, und auch kosten lassen, um geeignetes Personal zu finden. Natürlich braucht es dazu je nach Betrieb individuelle Lösungen. Es gibt beispielsweise heute schon Firmen im Bau- und Installationsgewerbe, wo an vier Tagen die Woche während neun Stunden gearbeitet wird. Womit auch Lohnkosten für die Anfahrt zur Baustelle eingespart werden.

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.