Safe Space

Kürzlich besuchte ich ein Konzert in einem sehr kleinen Club in einer grösseren Schweizer Stadt. Ein rundum sympathischer Anlass. Der Eintritt war gratis (es wurde eine Kollekte gesammelt), und statt eines Türstehers stand am Eingang eine junge Frau, die mir das Awareness-Konzept des Lokals erklärte: Alle sollen sich so benehmen, dass sich die anderen wohlfühlen; wer sich durch das Verhalten einer anderen Person bedrängt oder belästigt fühlt, kann sich an die Leute an der Bar oder an der Tür wenden, die dann eingreifen. Was auf den ersten Blick nur als ‹woke› Variante dessen erscheint, was meine Generation noch mit «Anstand» umschreibt, geht bei näherem Hinsehen doch etwas tiefer. Das Konzept «Anstand» geht primär vom Empfinden der Täterschaft aus. Hat ein Belästiger «es ja gar nicht so gemeint», ist er oft fein raus, die belästigte Person soll sich mal nicht so anstellen. Dies wird im «Awareness»-Ansatz umgedreht: Fühlt sich jemand belästigt, dann ist es eine Belästigung, egal wie es gemeint war. So soll ein «Safe Space», ein sicherer Raum für alle geschaffen werden.

Das eigene Empfinden hat in der jungen Generation (zumindest im fortschrittlichen Teil davon) einen hohen Stellenwert. Dies ist im Fall der Belästigung eine gute Sache, hat aber auch seine Schattenseiten. Wenn etwa das Unwohlsein einiger zum Anlass wird, andere zu unterdrücken – wir erinnern uns an das Reggae-Konzert in der Berner Brasserie Lorraine im Sommer 2022, das verboten wurde, weil sich einige Besucher:innen an den Dreadlocks weisser Musiker störten – wird das Empfinden der einen über das der anderen gestellt. Der Safe Space, den man schaffen wollte, wird zum Raum der Machtausübung.

Auch im neuen Bild der Geschlechter ist das persönliche Empfinden zentral. Ein Mann bin ich nach dieser Lehre nicht mehr, weil ich männliche Geschlechtsmerkmale habe, sondern weil ich mich als Mann identifiziere. Würde ich mich als Frau identifizieren, wäre ich eine Frau. Die Gesetzgebung hat auch bereits einen Schritt in diese Richtung gemacht, Menschen mit Trans-Identität können seit Anfang 2022 ihren Geschlechtseintrag in der Schweiz unbürokratisch ändern. Kann die Welt mit diesem Paradigmenwechsel zum Safe Space für alle Geschlechtsidentitäten werden? Darüber, wie dies in der Gesellschaft umzusetzen ist, findet leider kaum eine ernsthafte öffentliche Diskussion statt. Auf der linken Seite haben wir die Tendenz, allem, was irgendwie «queerfeministisch» daherkommt, unhinterfragt zuzustimmen, die Rechten dagegen finden sowieso alles doof, was ihr traditionelles Weltbild ankratzt. Eine solche Diskussion wäre aber nötig und auch interessant. 

Die Frage etwa: Was genau ist eine Frau oder ein Mann, wenn die reine Selbstdeklaration ausreicht, um mich zur Frau oder zum Mann zu machen? Besteht eine Gefahr der Beliebigkeit? Ist es überhaupt wichtig? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht, und brauchen wir denn überhaupt Geschlechter? 

Oder: Wie weit darf das eigene Empfinden dasjenige der anderen stören? Und wie finden wir einen konstruktiven Umgang mit Konfliktsituationen?

Statt dessen herrscht Gehässigkeit hüben und drüben. Theatralisches Geschrei um «Woke-Wahnsinn» auf der einen Seite, selbstgerechtes «Wir haben es gecheckt und ihr nicht» auf der anderen. Unsere Gesellschaft zu einem grossen Safe Space für alle Menschen zu machen, dürfte so noch lange dauern. Zum Glück gibt es Leute, die in ihren Räumen kleine schaffen.

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